Luxusleben

Wie immer nach einer Seepassage schlafe ich mich am nächsten Morgen erst einmal gründlich aus. Nach dem Morgenkaffee mache ich mich an die Arbeit. Diesmal ist wieder eine Reparatur fällig. Die Genua soll bitteschön wieder an ihren Platz.

Ursache

Zuerst bereite ich die Arbeiten vor. Dazu gehört auch, die Ursache für den Sturz der Genua in die Nordsee zu beseitigen. Das Genuafall ist oben am Mast gerissen und natürlich ist der längere Teil in den Mast gestürzt. Das kann die anderen Fallen blockieren und deswegen muss es raus. Es blockiert auch schon beim Herausziehen, nach fünf Minuten habe ich das Gefummel erledigt. Zum Glück habe ich noch ein Reservefall, das nun zum neuen Genuafall befördert wird.

Reservefall mutiert zum neuen Genuafall

Bisher habe ich diese Tätigkeit immer zu zweit ausgeführt. Alleine ist es ein wenig nervig. Die Genua zurecht zupfen, dann am Mast mit der Winschkurbel wieder einen Meter hochziehen. Dann wieder vorne die Genua zurecht zupfen. Und wieder an den Mast gehen und sie kommt wieder ein paar Meter höher.

Stück für Stück, Meter für Meter kommt das Segel wieder rauf.

Trotz des bedeckten Himmels komme ich bei der Arbeit ordentlich ins Schwitzen. Dafür habe ich heute aber auch schon einen Programmpunkt eingeplant, auf den ich mich besonders freue. Ich schaue nicht auf die Uhr, doch es dauert mit allen Arbeiten keine halbe Stunde, bis das Segel wieder im alten Glanz erstrahlt. Auf dem Weg nach oben kann ich es auch leicht auf eventuelle Schäden kontrollieren. Ich finde keine Schäden und das ist gut so. Ein Besuch beim Segelmacher hätte mir jetzt noch gefehlt.

Back in business!

Zum Schluss muss ich die Genua nur noch einrollen, das dauert keine Minute. Fertig. Wenn das Reservefall reißt, habe ich zur Not noch das Spifall. Wenn das reißt, muss ich ohne Genua weitersegeln. Um neue Fallen in den Mast einzuziehen, muss jemand an die Mastspitze klettern. Dass ich nicht dieser Jemand bin, habe ich in diesem Blog schon des Öfteren geschrieben. Ich gehe zum Hafenmeisterbüro, denn ich habe ein paar Fragen. Außerdem habe ich meinen Duschbeutel dabei, ich möchte die hiesigen Duschen testen.

Luxusschleuse mit Schwimmsteg

Auf dem Weg zum Hafenmeister komme ich an der Luxusschleuse mit Schwimmsteg vorbei. Damit wird Schleusen so einfach, wie längsseits an einem Steg anlegen. Es ist wirklich kein Aufwand. Auch für den Fischer links im Bild gibt es Hilfestellung. An der Schleusenwand sind Drahtseile montiert, an denen man festmachen kann. Dann kann das Boot ganz einfach nach oben fahren, ohne dass die eigenen Festmacher nachjustiert werden müssen.

Schleuse ist voll bei der Arbeit

Der Hafenmeister ist auch der Schleuser in Personalunion. Er hat gerade keine Zeit für mich, denn es haben sich in beide Richtungen schon wieder Boote angemeldet. Also gehe ich erst einmal unter die Dusche.

Duschtempel

Ich finde einen Duschtempel, der seinesgleichen sucht. In dieser Qualität habe ich das noch nie gesehen, jedenfalls nicht in den vergangenen drei Jahren. Die Fußbodenheizung in der Dusche der Oban Tavellers Marina war ja nett, auch die großen Kabinen haben gefallen. Die Regenwalddusche in Islay war toll. Doch hier ist alles beisammen, ein komplettes Badezimmer erwartet mich.

Alle Kabinen sind komplett ausgestattet.

Alle Duschkabinen sind komplett mit Waschbecken und Toilette ausgestattet. Für die, die nur auf Toilette müssen, gibt es noch separate Räumlichkeiten, deren Qualität nicht hinter den abgebildeten zurück bleibt. Die Dusche ist absolut sauber. Als ich vor einigen Jahren mit Sissi zum Königstag nach Amsterdam gefahren bin, gab es in der dortigen Marina Badezimmer mit vergleichbarer Ausstattung. Schade, dass ich kein Duschgetränk mitgenommen habe. Das Wasser fließt so lange man will. Die Temperatur ist frei einstellbar, von Eisschrank bis Hummer sind alle Einstellmöglichkeiten da. Herrlich.

Sogar eine Badewanne ist vorhanden.

Auf dem Weg nach draußen fällt mein Blick auf den Wegweiser zum Family-Bathroom. Ich öffne die Tür und bin begeistert. Allerdings muss ich sagen, dass hier die Qualität einen Tick hinter der Badewanne damals in Amsterdam zurückbleibt. In Amsterdam gab es nämlich ein großes Fenster, durch das man auf die Stadt schauen konnte. Doch wer will bitteschön bei diesen Sanitäranlagen meckern. Ich nehme mir vor, zwei- bis dreimal am Tag zu duschen.


Der Hafenmeister verrät mir dann den Preis, den ich für diesen Luxus zu zahlen habe. Es ist nicht die teuerste Marina, in der ich jemals war. In der Karibik sind die Preise höher und auch in Oban wird mehr aufgerufen . Außerdem gibt er mir noch den Tipp, zu den Öffnungszeiten des Restaurants baden zu gehen. Vorher solle ich mir einen Gin-Tonic holen und diesen dann in der Badewanne genießen. Ich frage nach Supermärkten und Busverbindungen. Es gibt fußläufig erreichbar einen kleinen Supermarkt. Ansonsten gibt es nichts. Für die Busverbindungen muss er eine Kollegin anrufen, denn er kommt immer mit dem Auto zur Arbeit. Ich bringe meine Sachen zurück zu Sissi und mache mich auf den Weg zu einem kleinen Spaziergang. Neben dem Hafenmeister gibt es auch noch Google-Maps, ein zuverlässiger Begleiter bei der Suche von Bushaltestellen und Supermärkten.

Außer Betrieb

Der Supermarkt ist keine 10 Minuten von der Marina entfernt. Er hat eine Gefriertruhe mit Fertiggerichten, ein Regal mit Knabberzeug und ein Regal mit Alkohol. Dazu eine kleine Ecke mit Softdrinks und Hygieneartikeln. Die Lotterie- und Tabaktheke nimmt einen großen Raum ein. Hier werde ich wohl nicht einkaufen gehen. Direkt gegenüber ist eine Bushaltestelle, an der ich wohl nicht abfahren werde. Ich spaziere in Richtung der Metrostation. Dort zeigt mir Google auch einen ALDI an.

Katze auf Taubenjagd

In einem Hof sehe ich eine Katze, die gerne eine Taube fangen würde. Als ich sie fotografiere, lenke ich sie von ihrer Tätigkeit ab. Nach etwa drei Kilometern erreiche ich die Metrostation. Natürlich lasse ich mir ein Foto eines abfahrenden Zuges nicht nehmen. Die Metro will in den kommenden Tagen noch inspiziert werden.

Metro, gelbe Linie

Nur wenige hundert Meter von der Metro entfernt ist ALDI. In Deutschland wäre der Satz schön zweideutig, doch die Metro ist hier eindeutig ein Transportmittel. Im Inneren bietet ALDI keine Überraschungen. Davor ist eine Bushaltestelle. In etwa einer Viertelstunde soll von hier ein Bus zur Marina fahren. Der Hafenmeister hat mir geraten, nach einem gemütlichen Spaziergang zum Supermarkt einfach ein Taxi zu nehmen. Das sehe ich aber gar nicht ein. Die Wartezeit vertreibe ich mir mit AIS-Stalking. Die Lycka ist in der Anfahrt auf Newcastle. Der Bus bringt mich zu einer anderen Haltestelle, die keine fünf Minuten von der Marina entfernt ist. Alles im grünen Bereich, in Oranjestad musste ich ein ganzes Stück weiter laufen. Ich schaue noch kurz beim Hafenmeister rein und bitte ihn, die Lycka zu mir an den Steg zu legen.

Lycka und Sissi

Die Wiedersehensfreude ist groß. Auf meinem langen Schlag von Peterhead nach Newcastle habe ich sie einfach überholt. Die Lycka fährt immer nur kleine Stücke und tagsüber. Auf diese Weise sehen die beiden zwar viele Marinas, aber auch nicht mehr von der Gegend als ich. Die Lycka wird am nächsten Morgen mit der passenden Tide weiterfahren, ich bleibe noch.

Eine Seefahrt, die ist lustig

Sissi ist klar zur Abfahrt. Die Tide ist klar zur Abfahrt. Nur der Wind ist es nicht. Er drückt mich immer wieder in die falsche Richtung auf den Steg. Eigentlich habe einen Plan, meine Box in Peterhead zu verlassen. Nur der Wind spielt nicht mit. Wie zum Geier soll ich die Vorleine und die Achterleine einigermaßen gleichzeitig lösen? Meine Rettung ist am anderen Ende der Marina. Ich sehe ein aus dem Caledonian Canal bekanntes Gesicht. Der Besitzer der Rawanna ist gerade auf seinem Boot bei der Arbeit. Das Boot bleibt über den Winter in Peterhead und er schlägt die Segel ab. Natürlich hilft er mir. Über Funk hole ich mir die Erlaubnis, die Marina zu verlassen. Das ist in Peterhead Vorschrift. Ich soll wegen der großen Pötte, die gerade manövrieren, noch eine Viertelstunde warten. Zeit für einen Schnack.

Große Pötte in Peterhead

Bei meinem zweiten Versuch bekomme ich die Erlaubnis. Das Ablegen klappt wunderbar, ich bin wieder unterwegs. Schnell kann ich den Hafen verlassen und der Tidestrom schiebt mich sofort wunderbar an.

Leuchtturm an der Hafeneinfahrt bzw. Ausfahrt

Wie schön ist es doch, draußen auf dem Atlantik für Stunden, Tage oder Wochen geradeaus zu segeln. Dort draußen ist nichts. Dort ist man alleine unterwegs. Hier ist jede Menge Verkehr. Kleine Fischerboote bringen Segelbootfallen aus. Zwei Frachtschiffe kommen mir mit dem Ziel Peterhead entgegen. Doch schon nach einer guten Viertelstunde bin ich frei von den vorgelagerten Riffen und kann Segel setzen. Der Motor schweigt. Es ist ein schönes Gefühl, nachdem die letzten beiden Etappen ausschließlich Motorfahrt waren.

Eineinhalb Knoten Tidestrom, der Rest ist Windkraft

Wieder einmal überkommt mich etwas Wehmut. Nun verlasse ich Schottland und nehme Kurs auf England. Die Zeit in Schottland war schön, ich bereue den Umweg durch den Kanal nicht. Ganz im Gegenteil! Gestern Abend habe ich mich aufgrund der Wettervorhersage entschieden, nicht den direkten Kurs nach Holland zu nehmen, sondern erst einmal nach Newcastle upon Tyne zu segeln. Der Wind soll die meiste Zeit in ausreichender Menge und aus einer günstigen Richtung wehen. Die letzten Meilen werde ich dann motoren müssen, sonst schaffe ich es nicht mehr mit der Tide, den Fluss Tyne hinauf zu fahren. Doch bis dahin liegen noch knapp 150 Meilen vor mir.

Blick zurück nach Schottland

Weiter und weiter entferne ich mich von der Küste und damit auch von den Segelbootfallen. Der Tag verspricht, ein perfekter Segeltag zu werden. Nicht zu viel Wind und nicht zu wenig. Die einzige Konzession meinerseits an die Nordsee ist, dass ich nicht mit dem Windpiloten fahre, sondern den elektrischen Autopiloten einsetze. So hält Sissi immer den Kurs, auch wenn die Segel nicht immer perfekt stehen. Auf diese Weise verspreche ich mir, dass es einfacher sein wird, die Heerscharen von Fischerbooten zu vermeiden.

Noch sieht man die Küstenlinie

BBC sendet immer noch im “Die-Königin-ist-tot-Modus”. Auf ruhige Musik folgen Reportagen über die Aufbahrung in Edinburgh und über die langen Warteschlangen, die sich gebildet haben. Dann kommen wieder O-Töne von Menschen, die sich an ihre persönlichen Erlebnisse mit der Queen erinnern. Langsam bekomme ich den Eindruck, dass die Dame jeden Briten irgendwann einmal persönlich getroffen hat und dass jetzt jeder Brite im Radio sein persönliches Erlebnis erzählt. Auf diese Weise lässt sich natürlich leicht die 10-tägige Staatstrauer überbrücken. Ein Regenschauer zieht durch.

Der Regenbogen nach dem Regenschauer. Wieder einmal sehr schön.

Ich nutze die Zeit des Regens zur Zubereitung meines Abendessens. Immer wieder liest oder hört man, dass man vor mehrtägigen Segeltörns doch sein Essen vorkochen möge. Das müsse man dann nur noch aufwärmen. Ich halt das für Blödsinn. Auf See hat man doch sowieso nichts zu tun. Die Zeit in der Küche ist kurzweilig und man spart sogar noch Geschirr. Wenn ich das Essen vorkochen würde, käme es in eine Tupperdose. Die muss dann zusätzlich gespült werden. Auch der Topf bzw. die Pfanne zum Aufwärmen ist zusätzliches Spülgeschirr. Außerdem weiß ich doch gar nicht, worauf ich übermorgen Lust haben werde. Ich plane ja nicht “Lammsteak mit Gemüse und Bratkartoffeln”, sondern ich habe Zutaten im Boot. Die werden dann nach Lust und Laune verbraten. Ein aufgewärmtes Steak ist nur halb so gut wie das frisch gebratene. Die größte Herausforderung auf See ist außerdem nicht die Zubereitung der Mahlzeiten. Es ist die Nahrungsaufnahme. Die Speisen wollen immer wieder vom Teller herunter springen.

Lammsteak mit Gemüse und Bratkartoffeln mit einer leichten Stilton Käsesauce

Inzwischen kommt der Radiosender nur noch schwach hinein, mehr und mehr stellt sich das Hochsee-Gefühl ein. Das Mobilfunknetz ist schon lange weg. Nur noch Aberdeen Coast Guard meldet sich regelmäßig mit Wettervorhersagen, maritimen Sicherheitsinformationen und Funksprüchen zu Lotsenbooten. Nach dem Abspülen schnappe ich mir ein Buch aus der Bibliothek, das ich noch nicht gelesen habe. “The Curfew” von T. M. Logan. Schon nach wenigen Seiten entwickelt sich die spannende Geschichte. Ich liebe solche Abende auf See.

Letzter Sonnenuntergang in Schottland.

Nachdem die Sonne untergegangen ist, lege ich das Buch beiseite und versuche, in die Nachtroutine zu finden. Ich stelle den AIS-Alarm an. Richtig müde bin ich noch nicht. Trotzdem schaffe ich das eine oder andere Nickerchen auf der Couch. Es ist wie beim letzten Mal. Kaum bin ich weg gedämmert, schon klingelt der Wecker. Dann folgt ein mehr oder minder ausführlicher Rundumblick, ein Blick auf das AIS und die Routine beginnt wieder von vorne. Ab auf die Couch. Gegen 22:30 Uhr ist plötzlich richtig viel los auf meinem AIS-Bildschirm. Jede Menge Fischerboote scheinen ihre Arbeit zu verrichten. Ich klicke die beiden mir nächsten Schiffe an und habe sofort die Bestätigung. “Fischereifahrzeug” steht in der Beschreibung. Klar, die See ist hier ein wenig flacher. Fischer sind immer dort in größeren Mengen zu finden, wo sich die Wassertiefen ändern. Ich sehe aber keine Probleme, mich durch den Fischer-Schwarm hindurch zu mogeln.

Jede Menge Ziele auf dem AIS

Ein Alarm weckt mich. Es ist nicht der AIS-Alarm und nicht der Wecker. Der Autopilot schlägt an und kann den Kurs nicht mehr halten. Warum? Wir haben doch genug Wind. Ich steige ins Cockpit und sehe die Katastrophe. Die Genua schwimmt neben Sissi im Wasser. Offenbar ist das Genuafall gerissen, das Seil, das das Segel nach oben zieht. Also muss ich das Großsegel ebenfalls runter nehmen, damit Sissi stehen bleibt. Dann darf ich auf dem schaukelnden Vordeck die Genua Stück für Stück an Bord ziehen. Eine Heidenarbeit, denn im Segel sammelt sich immer wieder kiloweise das Nordseewasser. Dann binde ich das Segel noch längs der Reling fest und ziehe das Groß wieder hoch. Erschöpft falle ich wieder auf die Couch. Wenige Minuten später knistert das Funkgerät. Ich höre, dass Sissi gerufen wird.

1.) Fischer
2.) Genua fällt ins Wasser
3.) Ich muss den Kurs ändern
4.) Wachboot
5.) Baustelle einer Windmühle

Kann man denn nie seine Ruhe haben? Ich gehe ans Telefon – äh – an den Funk. Eine Stimme mit osteuropäischem Akzent und ohne die hier sonst gewohnte britische Höflichkeit stellt sich mir als Wachboot vor. Die Stimme fragt mich, ob ich mir im Klaren darüber bin, das ich gerade in eine Windpark-Baustelle hinein segele. Bin ich mir nicht, sonst hätte ich es nicht getan. Das ist aber nicht meine Antwort. Ich antworte höflich und entschuldige mich. Das Wachboot gibt mir die Koordinaten zweier AIS-Bojen durch, um die ich östlich herumfahren muss. Ich markiere die Positionen auf meiner Karte und fluche innerlich. Auf diesem Kurs kann ich mit dem verbliebenen Segel keinen Stich mehr machen. Also kommt das Groß wieder herunter und der Mercedes wird geweckt. Dass die Bojen auf dem AIS senden würden, halte ich aber für ein Gerücht. Ich kann sie nämlich nicht sehen. Während ich um die Begrenzung herum dampfe, bleibt das Wachboot immer in der Nähe. Dann endlich kann ich wieder auf die Couch. Bevor ich wieder ein paar Minuten schlafe, mache ich mir noch Gedanken über aktuelle Seekarten. Meine neueste Seekarte ist vier Jahre alt. Die andere ist 12 Jahre alt. Doch eine solche Wachboot-Geschichte habe ich auch schon von der Lycka gehört. Die ist mit aktuellen Seekarten ausgestattet.

Die Genua ist provisorisch gesichert.

Am folgenden Morgen wäre der Motor sowieso zum Einsatz gekommen. Der Wind hat stark nachgelassen, der Seegang auch. Unter den jetzigen Bedingungen wäre es viel leichter gewesen, die Genua aus dem Wasser zu fischen. Pech. Nach dem Morgenkaffee nehme ich mir wieder mein Buch zur Hand. Es ist wunderschönes Wetter, die Sonne scheint. Ich komme der englischen Küste näher und näher. Irgendwann habe ich wieder Fetzen vom Mobilfunknetz. Es entwickelt sich ein Chat mit Gregor aus Frankfurt, der mich in Holland besuchen will. Er will vor dem Winter noch eine Runde auf Sissi drehen. Ich frage ihn, ob er in seinem Urlaub nicht Lust hat, nach Newcastle zu kommen und mich über die Nordsee zu begleiten. Er hat Lust. Damit werde ich die letzten 300 Meilen wieder einen Partner an Bord haben.

Aidasol hat Newcastle verlassen.

Bei der Anfahrt auf den Tyne-Fluss kommt mir noch das obligatorische Kreuzfahrtschiff entgegen. Außerdem darf ich meinen ersten Sonnenuntergang in England erleben, denn inzwischen hat der Tidestrom gedreht und bremst meinen Landeanflug.

Sonnenuntergang kurz vor Newcastle

Leider wird mir flussaufwärts die Strömung voll entgegen kommen, denn das Hochwasser ist jetzt seit einer halben Stunde vorbei. Eigentlich wollte ich nicht in die Royal Quays Marina neben dem Fähranleger für die Fähre aus Amsterdam. Die Marina ist irgendwo im Industriegebiet, in der Mitte von Nirgendwo. Doch die der Innenstadt nähere St. Peter’s Marina kann ich bei dieser Tide nicht mehr erreichen. Also nehme ich, was ich bekommen kann. Zuerst melde ich mich bei Tyne VTS (Kanal 12) an, der Verkehrsleitstelle für den Fluss Tyne. Dort erhalte ich die gute Nachricht, dass ich mit keinerlei Verkehr rechnen muss. Dann rufe ich die Marina auf Kanal 80. Mir wird eine sofortige Einfahrt in die Schleuse versprochen. Angesichts der hohen Kaimauern bitte ich um eine helfende Hand. Bei der Einfahrt in die Schleusenkammer muss ich dann fast lachen. Darin befindet sich ein Schwimmsteg. Es ist die komfortabelste Schleuse, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Hier hätte ich keine Hilfe gebraucht.

Sissy-Schleuse für Sissi

Der Schleusenwärter gibt mir noch einen Lageplan und die Codes für die Eingangstür, das WiFi und die Duschen. Außerdem weist er mir einen Platz zu und schleust mich anschließend nach oben. Ich mache am Kopf von Steg D fest, hier hätte Sissi zweimal dran gepasst. Angekommen. Ich trinke noch ein Anlegerbier, dann falle ich müde in meine Koje.

Peterhead

Am Morgen bin ich nach etwa 10 Stunden Schlaf ziemlich gut drauf. Es ist allerdings recht frisch an Bord. Der Wind hat über Nacht gedreht und kommt jetzt genau von achtern. Im Salon sind es nur noch 11°C, September in Nord-Schottland. Doch die Sonne schaut schon vom Himmel und wird das Boot hoffentlich bald ein wenig erwärmen. Die Lycka und die Freyja sind wie geplant in der Nacht abgefahren.

Maiden Street

Noch beim Morgenkaffee lade ich mir eine neue Wettervorhersage herunter. Es sind von hier aus 360 Meilen bis Den Oever. Dafür sind etwa drei Tage einzuplanen. Wenn ich morgen Mittag losfahre, könnte ich es bis Donnerstag Mittag nach Den Oever schaffen. Vorher losfahren lohnt sich nicht, denn der Wind wird am Morgen noch recht schwach sein. Auch eine Tide früher loszufahren ist außerhalb jeder Diskussion, denn das würde Gegenwind bedeuten. Am Freitag soll leider ein Sturmtief aus Norwegen über die Nordsee fegen. Der erste Starkwind wird sich schon am Donnerstagnachmittag einstellen. Das ist ungünstig. Wellenhöhen von über fünf Metern werden erwartet. Ich muss nachdenken und starte zu einem Spaziergang in den Ort.

Prince Street

Mir fallen die herrlich generischen Straßennamen auf. Es heißt nicht etwa Prince Charles Street, sondern einfach nur Prince Street. Diese Straße passt für jeden Prinzen. Um von der Prince Street in die Queen Street zu gelangen, läuft an die King Street entlang.

King Street

Der Straßenname passt auch hier wieder auf jeden König. Und die Queen Street ist für jede Königin gut. So muss man in Peterhead bei einem neuen Royal an der Spitze die zugehörigen Straßen nicht umbenennen. Praktisch.

Queen Street, dahinter die Church of Scotland

Leider helfen mir die schönen Straßennamen nicht bei meinem Problem weiter. Wie soll ich jetzt verfahren? Wie soll ich weiter segeln? Ich werde hier nicht warten, bis ich eine stabile Wettervorhersage für drei bis vier Tage habe. Das würde heißen, dass ich mehrere Tage guten Segelwind liegen lassen würde und keine Strecke mache. Außerdem ist es echt kühl hier. Ich muss weiter in den Süden. Andererseits gibt es an der Ostküste von England vor allen Dingen nur winzig kleine Häfen. Einige sind nur zu bestimmten Zeiten anlaufbar. Andere sind zu flach für Sissi. Wiederum andere sind mir einfach zu eng.

Auf dem roten Briefkasten sind auch die Initialen der verstorbenen Königin

Ich komme an einem roten Briefkasten vorbei und dabei fällt mir ein, dass ich noch eine Ladung Postkarten mit mir herumschleppe. Die sollten eigentlich die letzten Postkarten für meinen Verteiler werden, bevor ich nach Hause komme. Jetzt werde ich womöglich noch ein anderes Land anfahren. In England war ich mit Sissi noch nie! Innerhalb des Commonwealth war ich in Schottland, Nordirland, der Isle of Man, Wales, Guernsey, Barbados (damals noch Mitglied) und St. Lucia. Kommt jetzt womöglich noch England mit dazu? Newcastle upon Tyne ist eine valide Option. Der Kaffee drückt.

Wegweiser zur öffentlichen Toilette

Was mir in all diesen britischen Ländern gefallen hat, ist die Verfügbarkeit von öffentlichen Toiletten. Es gibt sie in fast jedem Ort und sie sind fast immer kostenlos. In den allermeisten Fällen sind sie auch beschildert, man muss nicht lange suchen. Kein Vergleich zum Beispiel mit Frankfurt, dort würde man sich bei der Suche einen Wolf laufen. Hilft mir aber auch nicht weiter bei meinem Segel- bzw. Wetterproblem.

ALDI

Auf dem Rückweg zu Sissi gehe ich noch kurz in den ALDI. Der besteht zu einem großen Teil aus Regalen mit Fertigessen. Aber es gibt auch frisches Gemüse, deswegen bin ich hier. Ich finde zu meiner Freude frischen Babyspinat, von dem ich gleich zwei Packungen einsacke. Eine ist immer zu wenig, der fällt ja in der Pfanne zusammen. Noch etwas Blumenkohl, Brokkoli und Pilze machen den Einkauf komplett. Selbst wenn ich jetzt bis Holland durchfahre, habe ich in jedem Fall leckere Mahlzeiten auf Vorrat.

Friedhof und Kriegsgräberdenkmal

Gleich neben dem ALDI ist der Friedhof. Was soll mir das sagen? Im Vordergrund ein Mahnmal für die Toten der beiden Weltkriege. Ich spaziere meine Runde um die Bucht zu Ende. Die Marina ist ein winziger Teil der Peterhead Bay. Ansonsten gibt es hier viele Anlegestellen für Frachtschiffe aller Art. Und ich habe noch keine Lösung für mein Wetterproblem gefunden. Entweder probiere ich aus, wie weit in den ersten beiden Tagen komme, dann muss ich aber am dritten Tag womöglich in einen winzigen englischen Hafen laufen, den ich nicht kenne. Oder ich plane gleich die Fahrt nach Newcastle upon Tyne ein, die sollte in eineinhalb Tagen zu machen sein. Oder, oder, oder… Ihr werde lesen, wie ich mich entschieden habe und was daraus geworden ist.

Das eine Frachtschiff verdrängt mehr Wasser, als alle Jachten im Vordergrund zusammen.

Am Abend suche ich den dem Hafen nächstgelegenen Pub auf. Am Tresen unterhalte ich mich mit einem Mann, der bei der Küstenwache arbeitet. Natürlich sprechen wir über das Wetter. Er sagt, bei solchen Wetterlagen hätte er immer viel zu tun. Ich denke, ich habe meine Entscheidung getroffen.