Fast eine Flucht

Nach der Freigabe durch die Behörden entschließen wir uns, Kuba so schnell wie möglich zu verlassen. Eine kurze Prüfung der Wettervorhersage ergibt ordentlichen Wind aus achterlicher Richtung, der uns erst einmal bis Haiti blasen soll. Haiti selbst ist sehr hoch und produziert einen Windschatten, den wir mit Motorkraft überwinden wollen. Dann ist es aufgrund der Windrichtung kein Problem mehr, Aruba anzulegen und direkt darauf zuzusteuern. So ist der Plan.

Tag 1

Wie es mit Plänen so ist, sie halten nicht viel länger als kubanische Regeln. Wir verlassen die Bucht von Santiago und erwischen erst einmal einen schönen Wind, setzen das Großsegel und die Genua und versuchen, so schnell wie möglich aus der 12-Meilen-Zone zu kommen. Nach drei Meilen ist aber Schluss mit der Herrlichkeit, der Wind ist weg und der Motor darf wieder arbeiten. Ich schlage Jens vor, schon einmal ein Reff ins Großsegel zu binden. Jens ist zu träge und meint, dass die Vorhersage nicht so viel Wind hergibt. Wir sind beide glücklich, Kuba unser Heck zu zeigen.

Nachdem wir die kubanischen Gewässer verlassen haben, kommt wieder Wind auf. Diesmal von vorne, nicht wie vorhergesagt. Aber die Menge ist ausreichend, wir können wieder segeln. Beide Segel sind voll gesetzt, Sissi hält mit hoher Geschwindigkeit auf Haiti zu, das wir allerdings in gebührendem Abstand passieren wollen. Es gibt dort eine heftige Strömung, der wir ausweichen wollen. Ich muss noch aufs Vordeck klettern und die Wanten nachspannen. Offenkundig habe ich das in Kuba nicht ordentlich gemacht. Jens hat immer noch keine Lust, das Großsegel zu reffen. Dann bleibt es eben ungerefft. Wird schon gehen.

In der Nacht frischt der Wind auf, wir bekommen bis zu 35 kn auf die Nase. Jetzt rächt sich das ungereffte Großsegel an uns. Nur mit handtuchgroßer Genua versuchen wir das Problem zu umschiffen. Außerdem werden wir immer näher an Haiti und die Zone mit der Gegenströmung geblasen. Sissi fährt ungewohnte Schräglagen. Es ist praktisch unmöglich, sich auf dem Boot zu bewegen. Wir müssen uns mit den Händen festhalten, derweil schaukeln die Füße in der Luft wie bei den Schimpansen im Affenhaus. Ich sage zu Jens, dass ich in Frankfurt mit dem Bouldern anfangen werde. Schlimmer als auf der Sissi kann das nicht sein. Ich werde nicht anfangen, meine blauen Flecken zu zählen.

Die erste Nacht ist unangenehm, wir werden durch unsere Kojen geschleudert. Die Vorschiffskoje und später auch der Salon verwandeln sich in eine Tropfsteinhöhle. Seit Monaten suche ich nach der undichten Stelle in der Vorschiffskoje, jetzt weiß ich, dass es nicht nur dort eine undichte Stelle ist. Und jetzt ist mir auch klar, wo das Wasser eindringt: Am äußeren Rand der Luken, wo sie auf das Deck aufgesetzt sein. Es betrifft alle Luken. Leider können wir zu diesem Zeitpunkt nichts daran ändern. Mitten in der Nacht setzt sich ein kleiner Vogel auf unsere Solarpaneele, nachdem er zunächst eine Landung auf der Saling versucht hat. Er bleibt dort bis zum Morgengrauen sitzen, bevor er sich wieder in die Luft begibt. Leider konnten wir diesen Vogel nicht klassifizieren.

Am nächsten Morgen lässt der Wind mehr und mehr nach, wir sind richtig nah an Haiti und in der Flautenzone. Und in der Gegenströmung. Der Motor wummert und Sissi fährt lediglich mit 1,5 kn über Grund. Zwei kleine haitianische Fischerboote umkreisen uns, wollen wissen, wo wir herkommen und fragen nach Geld. Bei dem Seegang wäre es quasi Selbstmord, wenn wir irgendwie so nahe an die Fischer heranfahren würden, dass wir ihnen etwas übergeben können. Wir winken uns gegenseitig noch zu, dann gehen die Fischer wieder ihrem Job nach.

Wir fahren diagonal mit dem Motor gegen die Strömung in die Richtung, in der wir am ehesten Wind erwarten. So kommen wir immerhin auf 2,5 kn Fahrt. Das erste Etmal liegt gerade einmal bei 102 Meilen.

Tag 2

Die Situation ist erst einmal unverändert. Wir dieseln durch die Flaute. Erst gegen 22 Uhr stellt sich ein stetiger Wind aus der vorhergesagten Richtung ein. Langsam verlassen wir die windtote Zone. Jens ist schon seit ein paar Stunden im Bett, also setze ich die Genua alleine (sehr einfache Übung) und reduziere die Drehzahl des Motors. Unsere Geschwindigkeit nimmt zu. Gegen 1 Uhr in der Nacht kann endlich den Diesel schlafen schicken. Als ich Jens um 2:30 Uhr wecke, machen wir gut 5 kn Fahrt. Gemeinsam nehmen wir noch die Windfahne in Betrieb, dann lege ich mich schlafen. Durch die Abwärme des Motors ist es unerträglich heiß in der Koje.

Wie immer habe ich die erste Nachtwache, dann wecke ich Jens. Kurz bevor Jens ins Cockpit kommt, lässt sich ein Tölpel auf unseren am Heck gestapelten Fendern nieder. Die Vögel werden größer. In der ersten Nacht hatten wir keinen ruhigen Schlaf, in der zweiten Nacht auch nicht. Ich werde wieder durch die Koje geworfen. Jens refft die Genua, die Geräuschkulisse höre ich erstmals in der Koje. Bislang war ich immer derjenige, der in der Nacht gerefft hat. Gegen acht Uhr wache ich durch den Lärm auf, den unser Anker verursacht, wenn er sich in die Wellen bohrt. Wir müssen noch mehr reffen. Ich komme ins Cockpit und sehe gut 30 kn Wind auf dem Anzeiger. Wow, das sind 10 kn mehr als vorhergesagt. Die Wellen sind imposant. Wir reffen die Genua weiter, so dass wir nur noch mit gut 3 kn Fahrt unterwegs sind. Dafür bohrt sich der Anker nicht mehr in die Wellen. In der Vorschiffskoje regnet es weiterhin. Jens erzählt, dass der Tölpel kurz vor Sonnenaufgang verschwunden ist.
Anstatt
einen Start in die Luft zu wagen, ist er einfach ins Wasser gesprungen und von dort gestartet. Cool.

Wir ändern den Kurs, so dass wir vor dem Wind laufen. Sofort ist Sissi ruhig im Wasser. Dann klettere ich mit Rettungsweste und Sicherheitsgurt auf das Vordeck, um sämtliche Luken mit Klebeband abzudichten. Mal sehen, ob das was bringt und ob meine Arbeitshypothese mit der undichten Stelle stimmt.

Für den nächsten Schlag von Aruba in Richtung Nordosten werden wir die Wettervorhersage genauer prüfen. Die Fahrt von Kuba weg ist mehr eine Flucht als eine sorgfältig geplante Segelreise. Wir haben vergessen, die Wellenvorhersage zu prüfen. Die Wellen sind jetzt sehr, sehr unangenehm und drehen uns immer wieder aus dem Kurs. Nicht nur Kuba, auch der Atlantik hat Regeln, die unerbittlich eingehalten werden. Allerdings ändern sich die Regeln auf dem Ozean nicht. Wenn man sie nicht beachtet, bekommt man blaue Flecken und eine nasse Vorschiffskoje. Angebrüllt wird man nur vom Wind. Das zweite Etmal liegt bei nur noch 88 Meilen.

Tag 3

Wir genießen unsere Reise nicht, wir existieren auf dem Segelboot. Wir sind todmüde. Wir sind ungewaschen und geschwitzt. An eine Dusche ist nicht zu denken bei diesem Seegang, auch eine Wäsche mit dem Waschlappen würde nur für blaue Flecken sorgen, nicht aber für die gewünschte Sauberkeit. Im Boot ist es immer noch warm und feucht. Unsere Klamotten kleben an uns. Der Motor kühlt nur langsam ab. Wo man auch hin fasst, was man auch anfasst, alles ist mit einem Salzfilm überzogen. Die Holzpaneele an der Salondecke sind teilweise aufgequollen und verzogen durch das eingedrungene Wasser.

Die provisorische Reparatur mit Klebeband hat den gewünschten Effekt erzielt. Es tropft wenigstens nicht mehr von der Decke. Ich möchte das dauerhafter gestalten und beginne, die Dichtmasse zu suchen, von der ich mir sicher bin, dass sie an Bord ist. Nach einer Weile finde ich die Tube Sikaflex, die seit zwei Jahren abgelaufen und deren Inhalt steinhart ist. Damit ist klar, wir müssen mit unserem Regenwald leben, bis wir einen Baumarkt finden.

In einer ruhigen Minute kann ich mich duschen. Es fühlt sich toll an. Dann habe ich meine Nachtwache und werde mehrfach mit Seewasser überschüttet. Schon bin ich wieder gesalzen und der Effekt der Dusche ist dahin. An den weiteren Umständen ändert sich nichts, die dritte Nacht ist genau so ruhig wie die ersten beiden Nächte. Zumindest sieht die Kurslinie auf dem Bordcomputer am nächsten Morgen ein wenig besser aus, die wenigen Meilen in Richtung Osten haben wir uns hart erkämpft. Es ist noch ein weiter Weg nach Aruba. Das dritte Etmal liegt bei 79 Meilen.

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