Am Morgen bin ich nach etwa 10 Stunden Schlaf ziemlich gut drauf. Es ist allerdings recht frisch an Bord. Der Wind hat über Nacht gedreht und kommt jetzt genau von achtern. Im Salon sind es nur noch 11°C, September in Nord-Schottland. Doch die Sonne schaut schon vom Himmel und wird das Boot hoffentlich bald ein wenig erwärmen. Die Lycka und die Freyja sind wie geplant in der Nacht abgefahren.
Noch beim Morgenkaffee lade ich mir eine neue Wettervorhersage herunter. Es sind von hier aus 360 Meilen bis Den Oever. Dafür sind etwa drei Tage einzuplanen. Wenn ich morgen Mittag losfahre, könnte ich es bis Donnerstag Mittag nach Den Oever schaffen. Vorher losfahren lohnt sich nicht, denn der Wind wird am Morgen noch recht schwach sein. Auch eine Tide früher loszufahren ist außerhalb jeder Diskussion, denn das würde Gegenwind bedeuten. Am Freitag soll leider ein Sturmtief aus Norwegen über die Nordsee fegen. Der erste Starkwind wird sich schon am Donnerstagnachmittag einstellen. Das ist ungünstig. Wellenhöhen von über fünf Metern werden erwartet. Ich muss nachdenken und starte zu einem Spaziergang in den Ort.
Mir fallen die herrlich generischen Straßennamen auf. Es heißt nicht etwa Prince Charles Street, sondern einfach nur Prince Street. Diese Straße passt für jeden Prinzen. Um von der Prince Street in die Queen Street zu gelangen, läuft an die King Street entlang.
Der Straßenname passt auch hier wieder auf jeden König. Und die Queen Street ist für jede Königin gut. So muss man in Peterhead bei einem neuen Royal an der Spitze die zugehörigen Straßen nicht umbenennen. Praktisch.
Leider helfen mir die schönen Straßennamen nicht bei meinem Problem weiter. Wie soll ich jetzt verfahren? Wie soll ich weiter segeln? Ich werde hier nicht warten, bis ich eine stabile Wettervorhersage für drei bis vier Tage habe. Das würde heißen, dass ich mehrere Tage guten Segelwind liegen lassen würde und keine Strecke mache. Außerdem ist es echt kühl hier. Ich muss weiter in den Süden. Andererseits gibt es an der Ostküste von England vor allen Dingen nur winzig kleine Häfen. Einige sind nur zu bestimmten Zeiten anlaufbar. Andere sind zu flach für Sissi. Wiederum andere sind mir einfach zu eng.
Ich komme an einem roten Briefkasten vorbei und dabei fällt mir ein, dass ich noch eine Ladung Postkarten mit mir herumschleppe. Die sollten eigentlich die letzten Postkarten für meinen Verteiler werden, bevor ich nach Hause komme. Jetzt werde ich womöglich noch ein anderes Land anfahren. In England war ich mit Sissi noch nie! Innerhalb des Commonwealth war ich in Schottland, Nordirland, der Isle of Man, Wales, Guernsey, Barbados (damals noch Mitglied) und St. Lucia. Kommt jetzt womöglich noch England mit dazu? Newcastle upon Tyne ist eine valide Option. Der Kaffee drückt.
Was mir in all diesen britischen Ländern gefallen hat, ist die Verfügbarkeit von öffentlichen Toiletten. Es gibt sie in fast jedem Ort und sie sind fast immer kostenlos. In den allermeisten Fällen sind sie auch beschildert, man muss nicht lange suchen. Kein Vergleich zum Beispiel mit Frankfurt, dort würde man sich bei der Suche einen Wolf laufen. Hilft mir aber auch nicht weiter bei meinem Segel- bzw. Wetterproblem.
Auf dem Rückweg zu Sissi gehe ich noch kurz in den ALDI. Der besteht zu einem großen Teil aus Regalen mit Fertigessen. Aber es gibt auch frisches Gemüse, deswegen bin ich hier. Ich finde zu meiner Freude frischen Babyspinat, von dem ich gleich zwei Packungen einsacke. Eine ist immer zu wenig, der fällt ja in der Pfanne zusammen. Noch etwas Blumenkohl, Brokkoli und Pilze machen den Einkauf komplett. Selbst wenn ich jetzt bis Holland durchfahre, habe ich in jedem Fall leckere Mahlzeiten auf Vorrat.
Gleich neben dem ALDI ist der Friedhof. Was soll mir das sagen? Im Vordergrund ein Mahnmal für die Toten der beiden Weltkriege. Ich spaziere meine Runde um die Bucht zu Ende. Die Marina ist ein winziger Teil der Peterhead Bay. Ansonsten gibt es hier viele Anlegestellen für Frachtschiffe aller Art. Und ich habe noch keine Lösung für mein Wetterproblem gefunden. Entweder probiere ich aus, wie weit in den ersten beiden Tagen komme, dann muss ich aber am dritten Tag womöglich in einen winzigen englischen Hafen laufen, den ich nicht kenne. Oder ich plane gleich die Fahrt nach Newcastle upon Tyne ein, die sollte in eineinhalb Tagen zu machen sein. Oder, oder, oder… Ihr werde lesen, wie ich mich entschieden habe und was daraus geworden ist.
Am Abend suche ich den dem Hafen nächstgelegenen Pub auf. Am Tresen unterhalte ich mich mit einem Mann, der bei der Küstenwache arbeitet. Natürlich sprechen wir über das Wetter. Er sagt, bei solchen Wetterlagen hätte er immer viel zu tun. Ich denke, ich habe meine Entscheidung getroffen.