Atlantik Tag 6 – Auf und ab und hin und her

Auf und ab. Zum Segeln braucht man Wind und Wind macht Wellen. Das ist trivial. Wir befinden uns nicht auf dem Ijsselmeer oder der Ostsee, wir befahren den Atlantik. Auf dem Ijsselmeer oder der Ostsee ist es einfach. Wenn der Wind da ist, sind auch die Wellen da. Wenn kein Wind da ist, beruhigt sich das Wasser schnell und die Wellen sind wieder weg. Das hat etwas mit der Wassertiefe zu tun und mit der Strecke, die der Wind über das Wasser blasen kann. Wenn das Wasser ein paar tausend Meter tief ist und der Wind in jeder Richtung mehrere hundert oder gar tausend Meilen Anlauf hat, dann sind die Wellen nicht sofort weg. Sie werden schwächer, bleiben aber da. Das nennt man Dünung – oder alte Dünung. Ein Sturm bei Island kann dafür sorgen, dass hier, 300 Meilen nördlich der Kapverden, immer noch mehrere Meter hohe Wellen stehen. Jetzt kommt aber noch der hiesige Wind dazu, der auch Wellen verursacht. Die sind nicht so hoch, kommen aber aus einer anderen Richtung.

Auf und ab. Wir fahren also auf der alten Dünung auf und ab, dabei schubsen uns die neuen Wellen des hiesigen Windes auch nochmal auf und ab. Immer wieder auf und ab. Manchmal laufen sie quer unter Sissi durch, dann geht es hin und her. Es schaukelt. Auf und ab und hin und her. Immer wieder. Jede Minute, jede Stunde, den ganzen Tag. Sissi tanzt in den Wellen.

Auf und ab. Wir leben damit in unserer schwimmenden Wohnung mit Meerblick. Essen, Trinken, Kochen, Backen, Spülen, Putzen, Duschen, Schlafen, Handwerken und gelegentlich nach anderen Schiffen schauen, die Segelstellung kontrollieren und den Kurs überwachen. Aber in der Hauptsache eben das, was Menschen in ihrer Wohnung an Land auch machen. Die Wohnung an Land schüttelt sich allerdings nicht so sehr, dass der Mensch vom Herd auf die Wohnzimmercouch geworfen wird. Wir haben uns das so ausgesucht. Auf und ab und hin und her. Sissi schunkelt karnevalesk.

Jens, Jakob und ich haben entschieden, dass wir etwa von Heiligabend bis Silvester einen Zwischenstopp auf Sao Vicente in Mindelo machen wollen. Die Großwetterlage sieht so aus, dass es ab Heiligabend kaum noch Wind hier in der Gegend geben wird. Auf der einen Seite ist es schade, denn wir wären gerne früher in der Karibik gewesen. Auf der anderen Seite sehen wir die Chancen. Vielleicht bekommen wir doch ein neues Spifall. Und keiner von uns war bisher auf den Kapverden, also können wir noch etwas Sightseeing einschieben. Dann wäre da noch die Versorgung mit frischem Fleisch, Obst und Gemüse. Hier wäre durchaus noch die Möglichkeit, an der einen oder anderen Stelle unsere Vorräte wieder aufzustocken. Sissi tanzt den Wiener Walzer.

Wir sehen eine Schildkröte in Richtung Kapverden schwimmen. Was macht die denn so weit draußen? Wo kommt sie her? Ein paar Stunden später sehen wir noch eine Schildkröte, die ist in derselben Richtung unterwegs. Auch ein paar Delphine können wir sehen, sie springen ca. 200 Meter hinter Sissi aus dem Wasser. Es geht hin und her, auf und ab. Sissi tanzt den Tango.

Bis dahin gleiten wir über die Wellen. Immer auf und ab. Und wir werden von den Wellen hin und hergeschubst. Die Stimmung an Bord ist entspannt. Wir fühlen uns wohl. Wir bemerken nur noch die größeren Störungen im Wellenbild, die normalen Wellen spüren wir gar nicht mehr. Das wird an Land lustig werden, besonders bei der ersten Dusche. Die geht dann nämlich auf und ab und hin und her. Zur Nachtruhe tanzt Sissi den Pogo. Jens und ich keilen uns mit Hilfe der Sitzkissen aus dem Salon in unseren Betten ein.

Auf und Ab. Hin und her. Am Morgen findet die fast schon obligatorische Reparatur statt. Die Windfahne steuert nicht mehr richtig, Sissi sucht ihren Kurs nach Lust und Laune. Diesmal ist an der Windfahne eine Schraube gebrochen. Wahrscheinlich eine Spätfolge der verloreren Schraube auf dem Weg nach Lanzarote. Mit Hilfe von Gehirnschmalz, dem Dremel und den Schrauben, die wir im Optimus Baumarkt in Arrecife gekauft haben, können wir das Problem beheben. Wir sind weiterhin zügig unterwegs. Die Wellen ändern sich nicht. Sissi tanzt Rock’n’Roll.000

6. Etmal: 127 nm
Position um 12 Uhr: N19°24′ W22°44′
Noch 192 Seemeilen nach Sao Vicente (Mindelo). Noch 2149 Seemeilen bis nach Barbados. Die gesamte zurückgelegte Strecke sind nun 710 Meilen.

4. Advent auf dem Atlantik

Atlantik Tag 5 – Hell, Dunkel, Halse, Schraube und die Furlex

Ein Tag auf dem Atlantik hat eine helle und eine dunkle Hälfte. Ohne Fernsehen, ohne Radio und ohne Internet, ohne Straßenbeleuchtung in der Nacht, ohne Verkehrslärm, ohne Nachrichten und ohne Zeitung. Bordroutine hat sich eingestellt, wie immer auf den langen Seepassagen. Nur ist diese Seepassage jetzt schon länger, als die längste, die wir bisher hatten – nicht in Meilen, aber in Tagen. Dabei stehen wir erst am Anfang, der größte Teil der Strecke liegt noch vor uns.

Eine helle und eine dunkle Hälfte auf unserem Raumschiff, das durch die endlosen Weiten des Ozeans gleitet. Die helle Hälfte beginnt mit Kaffee, selbst gebackenem Brot und dem täglichen Gespräch zwischen Jens und mir über das Wetter. Nicht die Diskussion über das Wetter, wie wir sie zu Hause kennen. Nicht das Gemecker über zu hohe oder zu niedrige Temperaturen, über zu viel oder zu wenig Regen, sondern die Diskussion über den Wind und die beste Wahl unserer Route. In der Konsequenz sind wir heute eine Halse gefahren, fahren jetzt einen etwas westlicheren Kurs, der immer noch genug Südkomponente hat, um Mindelo gegebenenfalls erreichen zu können. Vielleicht können wir diesen Zwischenstopp auslassen. Das hängt vom Wetter ab.

Die helle Hälfte. Halse geht so: Zuerst klettere ich auf das Vorschiff und demontiere den Baum, mit dem wir die Genua ausgebaumt haben. Dann klettere ich wieder zurück ins Cockpit. Jens ändert den Kurs, den die Windfahne steuert, um ca. 60 Grad. Langsam ändert Sissi die Richtung. Ich werfe die Backbordschot los, Jens zieht die Steuerbordschot an. Jakob filmt das. Ich will einen Film über den Atlantik schneiden. So viele Halsen wird es nicht geben. Zuletzt gehe ich wieder nach vorne und montiere den Baum neu. Fertig. Es dauert etwa eine Viertelstunde von Anfang bis Ende.

Die helle Hälfte. Jens entdeckt, dass wir mal wieder eine Schraube am Windgenerator verloren haben. Die letzte hatte ich doch sorgsam eingeklebt. Also klettere ich rauf und klebe eine neue Schraube rein. Diesmal mit einem anderen Klebstoff, der hoffentlich besser hält. Das ist jetzt schon die dritte Schraube an dieser Stelle, die wir verloren haben. Diese Aktion filmen wir nicht. In vier Metern Höhe über dem Ozean auf dem Radar sitzend will ich nicht gefilmt werden.

Zuletzt findet ein weiterer Höhepunkt des Tages statt – wir duschen. Das Wasser ist noch ordentlich kalt, Badewannentemperatur hat der Atlantik nicht. Egal, es fühlt sich gut an. Die letzte Aktion in der hellen Hälfte ist die Zubereitung des Abendessens, das heute von Jakob gekocht wird. Die See ist ruhig genug, einen Anfänger an den Herd lassen zu können. Es gibt Gulasch aus der Dose mit frischem Lauch, der unbedingt weg muss. Dazu Reis. Eine einfache, leckere Mahlzeit. Beim Verzehr beginnt die dunkle Hälfte des Tages.

Eine helle und eine dunkle Hälfte. Die erste Wache in der dunklen Hälfte ist meine. Das war sie schon immer, auch bevor Jakob zu uns an Bord kam. Jakob hat die mittlere Wache von Mitternacht bis vier Uhr morgens. Dann kommt Jens dran. Dank unseres Anhalters haben wir beide je zwei Stunden Schlaf mehr. Das tut gut. In dieser Hinsicht hat es sich ausgezahlt, einen dritten Mann an Bord genommen zu haben. Ich lege eine Platte von Leonard Cohen auf, setze mich ins Cockpit und begeistere mich wie fast an jedem Abend über den tollen Sternenhimmel. Die dunkle Hälfte ist hier richtig dunkel.

Wir erwarten noch mindestens 20 helle und 20 dunkle Hälften, bei unserem Bummeltempo rechnen wir nicht damit, früher in Barbados anzukommen. Das Bummeltempo ist schneller, als wir mit der Maschine fahren können. Ein Radfahrer würde bei diesem Tempo fast schon umfallen vor Langsamkeit. Diese Zeilen entstehen während der dunklen Hälfte in meiner Wache, während der Kommunikationstablet versucht, eine neue Wettervorhersage herunterzuladen, die ich morgen mit Jens diskutieren werde. In der hellen Hälfte des Tages.

Die dunkle Hälfte. Ich werde im Bett hin- und hergeschleudert. Der Wind hat aufgefrischt. Eigentlich müssten wir reffen. Jens hat entschieden, dass er in der Nacht lieber keine Arbeiten auf dem Vordeck machen möchte, also lässt er mich schlafen und kämpft mit der Windfahne. Wir haben zu viel Tuch draußen, immer wieder luven wir an, immer wieder rolle ich von links nach recehts und zurück. Ich bin zu müde, um ich aus dem Bett zu quälen und gemeinsam mit Jens zu reffen.

Die helle Hälfte. Wir können es nicht mehr vor uns herschieben, wir müssen reffen. Jens demontiert den Baum, Jakob bedient die Winsch, das Segel wird etwas kleiner. Dann fängt Jakob an, auf seine Zähne zu beißen. Seine Kraft reicht nicht mehr aus. Weiter reffen geht nicht mehr. Die Furlex ist blockiert. Zum Glück nicht oben an der Mastspitze, sondern unten an der Seiltrommel. Wieder ist Arbeit angesagt, ich muss auf das Vordeck. Ein Überläufer verhindert, dass wir das Segel weiter reffen können. Denksportaufgabe: Wie bekommen wir den Überläufer aus der Reffleine, die unter Zug steht? Nach dem Lösen dieses Problem demontiere ich die komplette Verkleidung der Seiltrommel, dann entlasten wir die Reffleine und ich kann die Leine entheddern. Scheißgefummel. Wenn ich den Konstrukteur dieser Furlex in die Finger bekomme, wickele ich ihn mit der Reffleine um das Vorstag, dann dresche ich mit einer großen Latte auf ihn ein, bis er grün und blau ist. Die Demontage ist n
och
leicht, die Montage eine wahre Drecksarbeit. Anschließend machen wir zwei Dosen Chili auf und backen ein Brot.

Die helle Hälfte. Wir haben das Wetter diskutiert und eine Entscheidung getroffen, wohin wir weiter fahren werden. Im morgigen Beitrag werde ich die Entscheidung bekannt geben. Wer raten möchte, sei aufgerufen, die einschlägigen Wetterseiten zu besuchen. Windy.com oder Windfinder.com können da entscheidende Hinweise geben. Noch eine dunkle und eine helle Hälfte.

5. Etmal: 137 nm
Position um 12 Uhr: N21°16′ W21°47′
Noch 315 Seemeilen nach Sao Vicente (Mindelo). Noch 2217 Seemeilen bis nach Barbados. Die gesamte zurückgelegte Strecke sind nun 583 Meilen.

Eigentlich wollte ich mich beim Segeln entspannen und nicht so viel arbeiten. Pustekuchen.

Ich muss die Furlex klarieren

Atlantik Tag 4 – Zweiundvierzig

Mitten im Atlantik fanden wir ihn, einsam neben Sissi treibend und Teil einer quasi in der Marina Santa Cruz gestrandetem Gemeinschaft der Anhalter. Anhalter gibt es in Santa Cruz wie Sand am Meer. Sie streunern über die Stege, finden mit Kennerblick die Langfahrer-Boote und fragen, fragen, fragen… Sie irren gewisserweise auch planlos über die Stege, jede neue Segeljacht zum unmöglichsten aller Zeitpunkte belagernd – direkt nach dem Anlegen. Wenn eine Crew alles mögliche braucht, ein Anlegerbier, eine Dusche und mindestens zwölf Stunden ruhigen Schlaf am Stück. Aber nicht die Frage, ob die Jacht weiter in die Karibik fährt und noch Crew braucht.

So überfiel er auch uns. Auf seiner Suche nach einer Mitfahrgelegenheit über den großen Teich. „Weißt Du, wo Dein Handtuch ist?“ So hätte ich fragen sollen. Habe ich aber nicht. Wahrscheinlich warten die Menschen in Tamsweg (Österreich) schon seit Tagen auf einen Beitrag dieser Art, denn wir haben seit Santa Cruz ein drittes Crewmitglied.

Wer das mit dem Handtuch und der 42 nicht versteht, möge jetzt bitte in die Bibliothek laufen oder beim Buchhändler seines Vertrauens das Werk „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams erwerben. Es lohnt sich.

Jens und ich haben lange überlegt, ob wir die Passage wie gewohnt zu zweit machen machen wollen, oder einen Anhalter mitnehmen sollen. „Nein, wir brauchen kein weiteres Crewmitglied, wir sind komplett“, haben wir gesagt. Dann haben wir uns das alles ein paar Tage durch den Kopf gehen lassen. Einerseits bringt eine weitere Person den Bordalltag ganz schön durcheinander. Andererseits kann eine dritte Person auch Wache gehen und wir bekommen mehr Schlaf. Letzteres hat den Ausschlag gegeben.

Wir haben ihn zu uns an Bord gebeten und getestet. Können wir uns mit ihm unterhalten? Nerven wir uns schon nach fünf Minuten an? Hat er eine Ahnung, was ihn in den kommenden Wochen erwarten wird? Hat er die nötigen Papiere bei sich? Uns hat tatsächlich mal ein Italiener mit abgelaufenem Reisepass gefragt, ob das in der Karibik ein Problem sein würde. Hat er Allergien? Hat er Essgewohnheiten, die den unsrigen diametral entgegengesetzt sind? Ist er willig, auch Arbeiten an Bord zu übernehmen? Welche Arbeiten kann er überhaupt übernehmen? Seine Segelerfahrung belief sich zu diesem Zeitpunkt auf eine Überfahrt mit einem Katamaran von Gibraltar zu den Kanaren. Der Abend war angenehm. Nachdem er wieder gegangen ist, haben wir uns erst einmal Schlafen gelegt. Diskutiert haben wir das am folgenden Tag und sind einstimmig zu dem Entschluss genommen, dass wir es mit Jakob Pfeifer, 21 Jahre alt, probieren werden. Falls es nicht funktioniert, werden wir ihn auf den Kapverden wi
eder
rauswerfen.

Deswegen ist er auch noch nicht im Blog in Erscheinung getreten. Ich wollte ihn erst in unsere Geschichte schreiben, wenn wir die ersten Tage hinter uns und Jakob besser kennen gelernt haben. Inzwischen wissen wir, dass es hier an Bord gut läuft, auch mit dem neuen Crewmitglied. Also wurde es höchste Zeit, das mal in die Öffentlichkeit zu bringen.

Ansonsten läuft hier alles wie immer. Der Wind weht, Sissi rollt, der Wassertank grollt. Seit dem Parasailor-Unfall zieht uns die Genua wieder vorwärts, wir haben sie ausgebaumt. Das macht das Leben leichter. In der vergangenen Nacht hat der Wind zugelegt, wir sind jetzt nicht mehr mit drei bis vier Knoten, sondern mit mindestens fünf bis sechs Knoten unterwegs.

Feine Rinderfilets vom Markt mit Süßkartoffeln und einer leckeren Tomaten-Paprika-Sauce (mit Mojo verfeinert) gab es gestern zum Abendessen. Spät am Abend sahen wir für ein paar Stunden auf dem AIS aufgrund von Überreichweiten ein Dutzend Schiffe, alle mindestens 100 Meilen von uns entfernt. Und wir sahen einen phantastischen Sternenhimmel.

Das Iridium-Lotto haben wir nun im Griff, wir können jetzt bequem die 14-Tage-Vorhersage für den kompletten Atlantik in nur drei bis vier Stunden herunterladen. Geht doch!

Leider scheint die Flaute schneller zu sein als Sissi. Wenn sich an der Vorhersage nichts mehr ändert, sind wir an Heiligabend in Mindelo auf Sao Vicente und müssen dort bis Silvester eine Woche Flaute aussitzen. Wenn wir in dieser Zeit ein neues Spifall bekämen, würde es sich wenigstens lohnen. Mal sehen. Abwarten und Kaffee trinken. Bis Heiligabend sind es noch ein paar Tage und das Wetter kann sich immer ändern. Morgen werden wir wahrscheinlich halsen und einen etwas westlicheren Kurs einschlagen.

4. Etmal: 114 nm
Position um 12 Uhr: N22°18′ W19°44′
Noch 366 Seemeilen bis zu den Kapverden, genauer gesagt 430 Seemeilen nach Sao Vicente (Mindelo). Ab sofort gebe ich die Meilen bis Sao Vicente an, weil wir dorthin fahren würden. Es sind nur noch 2335 Seemeilen bis nach Barbados. Die gesamte zurückgelegte Strecke sind nun 446 Meilen.

Das Bild zu diesem Beitrag hat Stefan von der Roede Orm ein paar Minuten vor unserer Abfahrt aufgenommen.

Crew der Sissi kurz vor der Abfahrt