Jeden Mittag gibt es das gleiche Ritual zu beobachten. Ein Angestellter des Hotels bringt einen Eimer voll Essensreste in die Marina und entleert ihn neben eine dichte Hecke. Dann kommen plötzlich ganz viele Iguanas aus der Hecke herbeigeeilt und schnabulieren den leckeren Salat. Ich bin heute leider zu spät, einer ist noch da, die anderen sind schon satt. Morgen ist auch wieder ein Tag.
Für unsere Tage auf Aruba gelten nun neue Regeln. Zu der nächtlichen Ausgangssperre ist noch eine Ausgangssperre bei Tag hinzugekommen. Wir dürfen noch Lebensmittel einkaufen und in die Apotheke gehen. Ansonsten sind alle Aktivitäten draußen verboten. Zu unserem Glück ist die Definition von „drinnen“ und „draußen“ weit gefasst. Wir können uns auf dem Marinagelände und dem Gelände des angrenzenden Hotels frei bewegen. So lange wir nicht auf unseren Booten eingesperrt werden, kann ich mit all diesen Beschränkungen leben.
Am Freitag wurde das Marinabüro für unbestimmte Zeit geschlossen. Ich musste gleich für einen ganzen Monat bezahlen, aber wir bleiben wahrscheinlich sowieso länger. Wir haben die Telefonnummern der Angestellten für den Fall der Fälle. Irgendwie möchten wir in den nächsten Wochen eine Füllung unserer leeren Gasflaschen organisieren, dazu brauchen wir die Marinaleute.
Auf meinem heutigen Weg in den Supermarkt habe ich gar keinen Menschen auf der Straße getroffen. Ich habe kein Auto fahren gesehen. Es ist gespenstisch.
Gespenstisch wirkt auch der absolut leere Hotelstrand. Es ist uns nicht so richtig klar, ob wir den benutzen können oder nicht. Es ist aber niemand da, der uns an der Benutzung hindern würde. So lange das Hotel noch geöffnet war, durften wir an diesen Strand. Ich gehe nachher mal rüber und probiere es aus.
Es fällt mir immer noch schwer, mich an die aktuelle Situation zu gewöhnen. Was gerade auf unserem Planeten geschieht, ist so unsagbar schwer zu begreifen.
Jens und ich leben gut auf unserem kleinen Planeten. Sissi liegt sicher im Hafen, die Supermärkte um uns herum haben geöffnet und die Regale sind voll. Wir sind gesund. Wir haben Freunde im Hafen, können Gespräche führen. Ein guter Metzger ist bequem zu Fuß erreichbar und den Hotelstrand haben wir für uns alleine.
Am Hotelstrand werden wir auch nicht weggejagt. Inzwischen kennen wir alle Sicherheitsleute und die Sicherheitsleute kennen uns. Sogar ein nächtlicher Spaziergang am Wasser entlang ist während der Ausgangssperre möglich, denn der Weg wird durch mehrere Stockwerke Luxusbeton von den Blicken eventuell vorbeifahrender Polizisten abgeschirmt.
Auf anderen Inseln sieht es anders aus. Wir sind in Kontakt mit Seglern auf verschiedenen Inseln. Auf Martinique liegt noch die Joint Venture II. Dort gibt es eine strenge Ausgangssperre, die Segler dort können ihre Boote nur aus wichtigem Grund verlassen. Da gehört ein Spaziergang nicht dazu. Die Supermärkte sind nur noch am Vormittag geöffnet und in den Regalen klaffen schon Lücken. Dennoch scheint Martinique noch attraktiv zu sein.
Attraktiv für Segler, die sich derzeit auf Grenada befinden, wie die Lucky Star. Dinge des täglichen Bedarfs gibt es dort zu kaufen, sonst ist aber nicht viel im Supermarkt zu finden. Das Boot für eine Atlantiküberquerung auf Grenada zu bevorraten erscheint unmöglich. Deswegen versuchen sie, die Erlaubnis zur Einreise nach Martinique zu bekommen, um dort ihre Vorräte zu ergänzen.
So geht es rundherum um die gesamte Karibik bis nach Kolumbien und Panama. Die einzelnen Segler haben einen mehr oder weniger günstigen Platz gefunden, um die nächsten Wochen zu überstehen. Die meisten sind durch Zufall an ihrem Ort gestrandet. Eine Rückfahrt nach Europa ist etwa ab Mitte April möglich. Bis dahin müssen die Boote vorbereitet werden.
Oft fehlt auch Crew. Es gibt einige Boote, deren Crewmitglieder nach Hause geflogen sind. Es hätten neue Crewmitglieder einfliegen sollen, was aber im Augenblick bekanntermaßen nicht geht. Da sitzt oft nur noch der Skipper an Bord und harrt der Dinge. Vor dem Flughafen von Aruba liegt noch ein deutsches Boot, die Tortuga. Deren Skipper ist ohne seine Crew einigermaßen aufgeschmissen, er muss aber trotzdem seine Rückfahrt planen.
Die Rückfahrt könnte beschwerlicher werden als üblich. Normalerweise machen Segelboote, die den Atlantik von West nach Ost überqueren, auf Bermuda, den Azoren und manchmal Madeira einen Zwischenstopp. Einerseits will man die schönen Landschaften nicht auslassen, andererseits ist es gut für die gesamte Crew, wenn man mal ein paar Nächte richtig ausschlafen kann.
Um es kurz zu machen: Bermuda hat die Grenzen geschlossen. Madeira ebenso. Auf den Azoren ist mit besonderer Erlaubnis ein Tankstopp und Bevorratung möglich. Das Boot darf dabei nicht verlassen werden. Es wird unangenehm.
Schlimmstenfalls müssen wir alle die 5500 Meilen nach Deutschland ohne Zwischenstopp segeln. Das wären dann ca. 50 Tage auf See. Unangenehm.
Innerhalb weniger Tage hat sich unter den gestrandeten Seglern eine WhatsApp-Gruppe gebildet. Über 100 Teilnehmer schaffen es dort im Augenblick noch, eine einigermaßen konstruktive Diskussion zu führen. Immerhin war es auf diesem Weg möglich, einige Daten zu Schiff und Crew an deutsche Behörden zu schicken. Die deutschen Außenpolitiker sollen sich darum kümmern, dass die Jachten auf der Heimreise auch in Bermuda und Madeira einlaufen kann. Immerhin ist ein Vertreter des diplomatischen Korps mit in der Gruppe. So viel zu einer einigermaßen brauchbaren Aktion. Wie ich zu der Online Petition stehe, weiß ich noch nicht. Verproviantieren muss man sowieso für den Fall der Fälle – also bis Deutschland. Ein Boot in Seenot werden sie sicher nicht abweisen.
Unsere Sissi hat genug Vorräte, wir können zur Not die 5500 Meilen segeln. Dieses Wissen ist sehr, sehr beruhigend. Deswegen können wir uns entspannen und manchmal noch eine der wenigen Attraktionen, die noch geöffnet haben, besuchen.
Attraktion. Die Latte hängt niedrig. Ein Hotelresort hätte ich vor der Seuche niemals als Attraktion bezeichnet. Noch vor ein paar Tagen war hier mehr los. Die hoteleigene Insel mit vielen Flamingos und Pelikanen war noch geöffnet, wenn auch nur für ein Dutzend Gäste. Leider ist sie inzwischen geschlossen. Wir hatten viel Spaß mit den Vögeln.
Für einen Vierteldollar bekommt man an einer Art Kaugummiautomaten Pellets, mit denen man die Vögel füttern kann. Das wissen die Vögel natürlich auch. Kaum dreht man einen Vierteldollar in den Automaten, stürzen sich unzählige Antillenkrakel und Tauben auf den ahnungslosen Menschen. Wir haben uns für einen Dreivierteldollar Spaß gekauft und ein kleines Video gedreht. Viel Spaß dabei.
Außerdem gibt es auf der Insel eine hervorragende Dusche. Sie schlägt die Personaldusche des Hotels, die wir mitbenutzen, um mehrere Flamingohalslängen. Ein paar Unbequemlichkeiten müssen wir doch erleiden.
Die Chapo ist in Quarantäne. Oder auch nicht. Bei der Einreise haben sie von den Offiziellen nichts über eine Quarantäne gehört, nur die Mitarbeiterin eines Sicherheitsdienstes sprach von zwei Wochen. Es kommt niemand beim Schiff vorbei um etwa die Temperatur zu messen oder die Anwesenheit zu kontrollieren. Aber irgendwie wissen wir nicht Bescheid. Von den Offiziellen ist bisher niemand zu erreichen. Das ist alles etwas unverständlich, haben sie doch drei Wochen Quarantäne auf See hinter sich.
Es ist alles in allem erträglich. Die Regeln sind „keiner verlässt das Boot“ und „keiner geht auf das Boot“. Also helfen wir etwas beim Einkaufen oder dem Transport der Schmutzwäsche zur Wäscherei. Wenn es dunkel ist, gehen sie heimlich duschen.
Jutta fragt mich, ob ich ihr zeigen kann, wie wir unseren Brotteig machen. Ich darf mich auf dem Steg neben die Chapo setzen. Jutta setzt sich neben mich und so rühren wir gemeinsam einen neuen Brotteig.
Das Backergebnis ist am Ende sehr lecker und wird von allen gelobt. Jetzt hat Jutta ein Problem weniger, denn sie weiß nun, wo sie gutes Brot bekommt.
Jens entdeckt Google Duo und telefoniert nach Hause. Das Produkt ermöglicht Videotelefonate mit bis zu acht Teilnehmern und läuft sogar im Marina-WLAN sehr stabil. Ich glaube, ich werde mir das auch installieren. Jens verabredet sich mit seinen Freunden zu einem virtuellen Stammtisch. Eine schöne Idee.
Dann muss ich nur noch Leute in Deutschland finden, mit denen ich mich darüber unterhalten kann. Inzwischen kann ich mich vor lauter Messengern und Telefonieprogrammen auf meinem Smartphone kaum noch retten.
Zum Abendessen gibt es Pizza. Ein tolles Gericht. Es dauert ewig, bis der Teig gegangen ist. Es dauert ewig, bis alle Zutaten geschnibbelt sind. Es dauert ewig, bis endlich die erste Pizza aus dem Ofen kommt. Und dann dauert es wieder ewig, bis die zweite Pizza fertig geworden ist. Der Backofen ist leider so klein, dass zwei Personen so ein Backblech in fünf Minuten leer fressen. Und dann dauert es ewig, die ganze Sauerei hinterher wieder wegzuputzen. Lecker ist es sowieso.
Seit ein paar Tagen gilt auf Aruba eine nächtliche Ausgangssperre. Alle Läden, Restaurants und Bars müssen um 20 Uhr schließen, ab 21 Uhr bis um 6 Uhr morgens darf niemand mehr auf die Straße. Das kontrolliert die Polizei auch gründlich, Strafen bis zu 10000 Florin (1 US$ = 1,75 Florin) oder Gefängnis drohen.
Etwas subversiv sind sie also, meine Fotos, die während des genannten Zeitraums entstanden sind.
Ich bin nur ein paar Meter vom Hotelgelände heruntergegangen. Und es war niemand da, der mich gesehen hat. Surreal ist wohl das richtige Wort.
Dem Mann auf dem Foto ist es offenbar sehr wichtig, noch einmal im Internet zu surfen. An der Stelle gibt es nämlich kostenloses Wlan. Die Strafe, die er riskiert, ist für hiesige Verhältnisse sehr, sehr hoch.