Eine Seefahrt, die ist lustig

Sissi ist klar zur Abfahrt. Die Tide ist klar zur Abfahrt. Nur der Wind ist es nicht. Er drückt mich immer wieder in die falsche Richtung auf den Steg. Eigentlich habe einen Plan, meine Box in Peterhead zu verlassen. Nur der Wind spielt nicht mit. Wie zum Geier soll ich die Vorleine und die Achterleine einigermaßen gleichzeitig lösen? Meine Rettung ist am anderen Ende der Marina. Ich sehe ein aus dem Caledonian Canal bekanntes Gesicht. Der Besitzer der Rawanna ist gerade auf seinem Boot bei der Arbeit. Das Boot bleibt über den Winter in Peterhead und er schlägt die Segel ab. Natürlich hilft er mir. Über Funk hole ich mir die Erlaubnis, die Marina zu verlassen. Das ist in Peterhead Vorschrift. Ich soll wegen der großen Pötte, die gerade manövrieren, noch eine Viertelstunde warten. Zeit für einen Schnack.

Große Pötte in Peterhead

Bei meinem zweiten Versuch bekomme ich die Erlaubnis. Das Ablegen klappt wunderbar, ich bin wieder unterwegs. Schnell kann ich den Hafen verlassen und der Tidestrom schiebt mich sofort wunderbar an.

Leuchtturm an der Hafeneinfahrt bzw. Ausfahrt

Wie schön ist es doch, draußen auf dem Atlantik für Stunden, Tage oder Wochen geradeaus zu segeln. Dort draußen ist nichts. Dort ist man alleine unterwegs. Hier ist jede Menge Verkehr. Kleine Fischerboote bringen Segelbootfallen aus. Zwei Frachtschiffe kommen mir mit dem Ziel Peterhead entgegen. Doch schon nach einer guten Viertelstunde bin ich frei von den vorgelagerten Riffen und kann Segel setzen. Der Motor schweigt. Es ist ein schönes Gefühl, nachdem die letzten beiden Etappen ausschließlich Motorfahrt waren.

Eineinhalb Knoten Tidestrom, der Rest ist Windkraft

Wieder einmal überkommt mich etwas Wehmut. Nun verlasse ich Schottland und nehme Kurs auf England. Die Zeit in Schottland war schön, ich bereue den Umweg durch den Kanal nicht. Ganz im Gegenteil! Gestern Abend habe ich mich aufgrund der Wettervorhersage entschieden, nicht den direkten Kurs nach Holland zu nehmen, sondern erst einmal nach Newcastle upon Tyne zu segeln. Der Wind soll die meiste Zeit in ausreichender Menge und aus einer günstigen Richtung wehen. Die letzten Meilen werde ich dann motoren müssen, sonst schaffe ich es nicht mehr mit der Tide, den Fluss Tyne hinauf zu fahren. Doch bis dahin liegen noch knapp 150 Meilen vor mir.

Blick zurück nach Schottland

Weiter und weiter entferne ich mich von der Küste und damit auch von den Segelbootfallen. Der Tag verspricht, ein perfekter Segeltag zu werden. Nicht zu viel Wind und nicht zu wenig. Die einzige Konzession meinerseits an die Nordsee ist, dass ich nicht mit dem Windpiloten fahre, sondern den elektrischen Autopiloten einsetze. So hält Sissi immer den Kurs, auch wenn die Segel nicht immer perfekt stehen. Auf diese Weise verspreche ich mir, dass es einfacher sein wird, die Heerscharen von Fischerbooten zu vermeiden.

Noch sieht man die Küstenlinie

BBC sendet immer noch im „Die-Königin-ist-tot-Modus“. Auf ruhige Musik folgen Reportagen über die Aufbahrung in Edinburgh und über die langen Warteschlangen, die sich gebildet haben. Dann kommen wieder O-Töne von Menschen, die sich an ihre persönlichen Erlebnisse mit der Queen erinnern. Langsam bekomme ich den Eindruck, dass die Dame jeden Briten irgendwann einmal persönlich getroffen hat und dass jetzt jeder Brite im Radio sein persönliches Erlebnis erzählt. Auf diese Weise lässt sich natürlich leicht die 10-tägige Staatstrauer überbrücken. Ein Regenschauer zieht durch.

Der Regenbogen nach dem Regenschauer. Wieder einmal sehr schön.

Ich nutze die Zeit des Regens zur Zubereitung meines Abendessens. Immer wieder liest oder hört man, dass man vor mehrtägigen Segeltörns doch sein Essen vorkochen möge. Das müsse man dann nur noch aufwärmen. Ich halt das für Blödsinn. Auf See hat man doch sowieso nichts zu tun. Die Zeit in der Küche ist kurzweilig und man spart sogar noch Geschirr. Wenn ich das Essen vorkochen würde, käme es in eine Tupperdose. Die muss dann zusätzlich gespült werden. Auch der Topf bzw. die Pfanne zum Aufwärmen ist zusätzliches Spülgeschirr. Außerdem weiß ich doch gar nicht, worauf ich übermorgen Lust haben werde. Ich plane ja nicht „Lammsteak mit Gemüse und Bratkartoffeln“, sondern ich habe Zutaten im Boot. Die werden dann nach Lust und Laune verbraten. Ein aufgewärmtes Steak ist nur halb so gut wie das frisch gebratene. Die größte Herausforderung auf See ist außerdem nicht die Zubereitung der Mahlzeiten. Es ist die Nahrungsaufnahme. Die Speisen wollen immer wieder vom Teller herunter springen.

Lammsteak mit Gemüse und Bratkartoffeln mit einer leichten Stilton Käsesauce

Inzwischen kommt der Radiosender nur noch schwach hinein, mehr und mehr stellt sich das Hochsee-Gefühl ein. Das Mobilfunknetz ist schon lange weg. Nur noch Aberdeen Coast Guard meldet sich regelmäßig mit Wettervorhersagen, maritimen Sicherheitsinformationen und Funksprüchen zu Lotsenbooten. Nach dem Abspülen schnappe ich mir ein Buch aus der Bibliothek, das ich noch nicht gelesen habe. „The Curfew“ von T. M. Logan. Schon nach wenigen Seiten entwickelt sich die spannende Geschichte. Ich liebe solche Abende auf See.

Letzter Sonnenuntergang in Schottland.

Nachdem die Sonne untergegangen ist, lege ich das Buch beiseite und versuche, in die Nachtroutine zu finden. Ich stelle den AIS-Alarm an. Richtig müde bin ich noch nicht. Trotzdem schaffe ich das eine oder andere Nickerchen auf der Couch. Es ist wie beim letzten Mal. Kaum bin ich weg gedämmert, schon klingelt der Wecker. Dann folgt ein mehr oder minder ausführlicher Rundumblick, ein Blick auf das AIS und die Routine beginnt wieder von vorne. Ab auf die Couch. Gegen 22:30 Uhr ist plötzlich richtig viel los auf meinem AIS-Bildschirm. Jede Menge Fischerboote scheinen ihre Arbeit zu verrichten. Ich klicke die beiden mir nächsten Schiffe an und habe sofort die Bestätigung. „Fischereifahrzeug“ steht in der Beschreibung. Klar, die See ist hier ein wenig flacher. Fischer sind immer dort in größeren Mengen zu finden, wo sich die Wassertiefen ändern. Ich sehe aber keine Probleme, mich durch den Fischer-Schwarm hindurch zu mogeln.

Jede Menge Ziele auf dem AIS

Ein Alarm weckt mich. Es ist nicht der AIS-Alarm und nicht der Wecker. Der Autopilot schlägt an und kann den Kurs nicht mehr halten. Warum? Wir haben doch genug Wind. Ich steige ins Cockpit und sehe die Katastrophe. Die Genua schwimmt neben Sissi im Wasser. Offenbar ist das Genuafall gerissen, das Seil, das das Segel nach oben zieht. Also muss ich das Großsegel ebenfalls runter nehmen, damit Sissi stehen bleibt. Dann darf ich auf dem schaukelnden Vordeck die Genua Stück für Stück an Bord ziehen. Eine Heidenarbeit, denn im Segel sammelt sich immer wieder kiloweise das Nordseewasser. Dann binde ich das Segel noch längs der Reling fest und ziehe das Groß wieder hoch. Erschöpft falle ich wieder auf die Couch. Wenige Minuten später knistert das Funkgerät. Ich höre, dass Sissi gerufen wird.

1.) Fischer
2.) Genua fällt ins Wasser
3.) Ich muss den Kurs ändern
4.) Wachboot
5.) Baustelle einer Windmühle

Kann man denn nie seine Ruhe haben? Ich gehe ans Telefon – äh – an den Funk. Eine Stimme mit osteuropäischem Akzent und ohne die hier sonst gewohnte britische Höflichkeit stellt sich mir als Wachboot vor. Die Stimme fragt mich, ob ich mir im Klaren darüber bin, das ich gerade in eine Windpark-Baustelle hinein segele. Bin ich mir nicht, sonst hätte ich es nicht getan. Das ist aber nicht meine Antwort. Ich antworte höflich und entschuldige mich. Das Wachboot gibt mir die Koordinaten zweier AIS-Bojen durch, um die ich östlich herumfahren muss. Ich markiere die Positionen auf meiner Karte und fluche innerlich. Auf diesem Kurs kann ich mit dem verbliebenen Segel keinen Stich mehr machen. Also kommt das Groß wieder herunter und der Mercedes wird geweckt. Dass die Bojen auf dem AIS senden würden, halte ich aber für ein Gerücht. Ich kann sie nämlich nicht sehen. Während ich um die Begrenzung herum dampfe, bleibt das Wachboot immer in der Nähe. Dann endlich kann ich wieder auf die Couch. Bevor ich wieder ein paar Minuten schlafe, mache ich mir noch Gedanken über aktuelle Seekarten. Meine neueste Seekarte ist vier Jahre alt. Die andere ist 12 Jahre alt. Doch eine solche Wachboot-Geschichte habe ich auch schon von der Lycka gehört. Die ist mit aktuellen Seekarten ausgestattet.

Die Genua ist provisorisch gesichert.

Am folgenden Morgen wäre der Motor sowieso zum Einsatz gekommen. Der Wind hat stark nachgelassen, der Seegang auch. Unter den jetzigen Bedingungen wäre es viel leichter gewesen, die Genua aus dem Wasser zu fischen. Pech. Nach dem Morgenkaffee nehme ich mir wieder mein Buch zur Hand. Es ist wunderschönes Wetter, die Sonne scheint. Ich komme der englischen Küste näher und näher. Irgendwann habe ich wieder Fetzen vom Mobilfunknetz. Es entwickelt sich ein Chat mit Gregor aus Frankfurt, der mich in Holland besuchen will. Er will vor dem Winter noch eine Runde auf Sissi drehen. Ich frage ihn, ob er in seinem Urlaub nicht Lust hat, nach Newcastle zu kommen und mich über die Nordsee zu begleiten. Er hat Lust. Damit werde ich die letzten 300 Meilen wieder einen Partner an Bord haben.

Aidasol hat Newcastle verlassen.

Bei der Anfahrt auf den Tyne-Fluss kommt mir noch das obligatorische Kreuzfahrtschiff entgegen. Außerdem darf ich meinen ersten Sonnenuntergang in England erleben, denn inzwischen hat der Tidestrom gedreht und bremst meinen Landeanflug.

Sonnenuntergang kurz vor Newcastle

Leider wird mir flussaufwärts die Strömung voll entgegen kommen, denn das Hochwasser ist jetzt seit einer halben Stunde vorbei. Eigentlich wollte ich nicht in die Royal Quays Marina neben dem Fähranleger für die Fähre aus Amsterdam. Die Marina ist irgendwo im Industriegebiet, in der Mitte von Nirgendwo. Doch die der Innenstadt nähere St. Peter’s Marina kann ich bei dieser Tide nicht mehr erreichen. Also nehme ich, was ich bekommen kann. Zuerst melde ich mich bei Tyne VTS (Kanal 12) an, der Verkehrsleitstelle für den Fluss Tyne. Dort erhalte ich die gute Nachricht, dass ich mit keinerlei Verkehr rechnen muss. Dann rufe ich die Marina auf Kanal 80. Mir wird eine sofortige Einfahrt in die Schleuse versprochen. Angesichts der hohen Kaimauern bitte ich um eine helfende Hand. Bei der Einfahrt in die Schleusenkammer muss ich dann fast lachen. Darin befindet sich ein Schwimmsteg. Es ist die komfortabelste Schleuse, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Hier hätte ich keine Hilfe gebraucht.

Sissy-Schleuse für Sissi

Der Schleusenwärter gibt mir noch einen Lageplan und die Codes für die Eingangstür, das WiFi und die Duschen. Außerdem weist er mir einen Platz zu und schleust mich anschließend nach oben. Ich mache am Kopf von Steg D fest, hier hätte Sissi zweimal dran gepasst. Angekommen. Ich trinke noch ein Anlegerbier, dann falle ich müde in meine Koje.

Springtide

Irgendwie schlafe ich schlecht, ich wache früh am Morgen auf. Es ist dunkel. Sissi macht merkwürdige Geräusche. Doch die Schiffsbewegungen sind harmlos, ich habe hier in Whitehills schon viel schlimmeren Schwell erlebt. Ich drehe mich im Bett herum und schlafe wieder ein. Irgendwie finde ich nicht wieder in den Schlaf. Kaum bin ich wieder eingeschlafen, habe ich merkwürdige Träume und finde mich beim alsbaldigen Aufwachen am Leebrett wieder, das mich auf See daran hindert, wild durch die ganze Achterkoje zu kugeln. Es fühlt sich alles komisch an. Draußen ist es noch dunkel, doch der Morgen dämmert schon. Ich drehe mich wieder herum, versuche den Schlaf wieder zu finden. Irgendwie fühlt es sich an wie beim Segeln auf See, aber das Schiff bewegt sich nicht. Das Schiff bewegt sich gar nicht.

Morgendlicher Blick aus dem Niedergang

Es ist sechs Uhr morgens, viel zu früh. Der Blick aus dem Niedergang weckt mich endgültig auf. Sissi hat ordentlich Schlagseite. Sie steht mit ihrem Kiel auf dem Boden des Hafenbeckens. Gestern Abend bei Niedrigwasser zeigte das Echolot noch 1,70 Meter Wassertiefe an. Das ist bei 1,70 Metern Tiefgang etwas knapp, doch Sissi ist weit davon entfernt, voll beladen zu sein. Das reicht locker. Heute ist das offenkundig anders.

Alle anderen Boote haben weniger Tiefgang

Ich ziehe mich an und steige die steile Rampe hoch auf die Kaimauer. Es ist offenkundig, alle anderen Boote haben noch genug Wasser unter dem Kiel. Seit ich die Karibik verlassen habe, ist Sissi ordentlich gewachsen. Mit einem 12-Meter-Boot ist man in der Karibik immer der Kleinste. Das kürzeste Boot, der kürzeste Mast, der geringste Tiefgang. In Schottland wurde ich schon mehrfach darauf angesprochen, dass mein Boot doch ziemlich groß ist für eine Person. Es ist nicht zu groß für eine Person, es ist zu groß für so manchen Hafen.

Niedrigwasser

So wenig Wasser habe ich noch nicht in der Hafeneinfahrt gesehen. Mir fällt es wie Schuppen aus den Haaren, es ist Vollmond. Der Mond ist nicht nur verantwortlich für die Gezeiten, der beeinflusst sie auch kurzfristig. Wir haben Vollmond. Das bedeutet Springzeit. Das bedeutet, dass das Hochwasser höher ausfällt als normal. Den Begriff „Springflut“ hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Dazu gehört im Gegenzug aber auch, dass das Niedrigwasser niedriger ist als normal. Der Tiefenmesser ist bei 1,40 Metern stehen geblieben. Gestern waren es noch 1,70 Meter!

Im Hafen liegen bekommt eine ganz andere Bedeutung.

Ich studiere den Tidekalender. Zwischen dem gestrigen Niedrigwasser und dem heutigen sind immerhin 30 Zentimeter Unterschied. In Dover. Ich schaue gar nicht mehr nach, welche Bedeutung es für Whitehills hat, denn ich kann es ja mit eigenen Augen sehen. An Schlaf ist jedenfalls nicht mehr zu denken. Der Pegel soll noch eine halbe Stunde lang fallen. Sissi zerquetscht die armen Fender wieder einmal.

Kaffee mit Schlagseite

Den heutigen Morgenkaffee genieße ich nicht mit Schlagsahne, sondern mit Schlagseite. Ich sitze im Cockpit und betrachte das Echolot. Dann schelte ich mich innerlich, die angezeigte Wassertiefe wird nicht weiter fallen. Wir sitzen schon auf dem Grund. Die Nachbarn von der Lycka stehen auf und haben mehr oder minder aufmunternde Sprüche für mich in meiner Situation.

Der Fischer hat kaum Tiefgang

Derweil fährt einer der Fischer aus dem Hafen. Er wünscht mir freundlich einen guten Morgen. Kein Wort über meine Situation, der Mann ist ein Vollprofi. Und er hat keinen nennenswerten Tiefgang. Nach dem Kaffee lege ich mich noch einmal ins Bett. Schlafen kann ich zwar nicht, doch was soll ich sonst tun. Eine Stunde später beginnt das Wasser langsam wieder zu steigen. Sissi quittiert es mit Knarzgeräuschen. Als der Tiefenmesser 1,60 Meter anzeigt, beginnt sie wieder zu schwimmen. Ich wollte aus Whitehills ausfahren, jetzt habe ich einen handfesten Grund. Das nächste Niedrigwasser wird noch einmal 10 Zentimeter niedriger ausfallen.

Die Schräglage ist zum Segeln optimal, dann ist Sissi am schnellsten. Im Hafen eher suboptimal.

Als das Echolot wieder 2 Meter Wassertiefe anzeigt, mache ich Sissi fertig zum Ablegen. Lycka fährt schon heraus. Die hat aber auch 30 Zentimeter weniger Tiefgang. In der Hafeneinfahrt liegen noch ein paar Brocken, die ich nicht rammen möchte. Bernie kommt zu mir und bietet seine Hilfe beim Ablegen an. Die nehme ich natürlich gerne. Ich verabschiede mich und verlasse den Hafen. Nur mit Mühe kann ich Sissi in diesem engen Becken wenden. Das Schiff ist wirklich gewachsen seit der Karibik.

Bye bye Whitehills

Als ich die Segelbootfallen hinter mir habe, ziehe ich probehalber die Genua raus. Der wenige Wind bringt mich nicht einmal auf zwei Knoten. Ich ziehe mir noch eine Wettervorhersage und rolle die Genua wieder ein. Der wenige Wind wird noch weniger werden. Ein weiterer Motortag liegt vor mir, doch es sind zum Glück nur 35 Meilen bis Peterhead. Ich kann sehen, dass die vor mir fahrende Lycka ihre Segel auch wieder weggenommen hat. Die See hat sich einigermaßen beruhigt, so angenehm war die Motorfahrt durch den Moray Firth noch nie für mich.

Die Windmühlen sind arbeitslos

Jetzt kann ich von der Springzeit profitieren. Heute werde ich den ganzen Tag den Tidestrom auf meiner Seite haben. Der ist in der Springzeit stärker als normal. Der Mercedes brummt mit Umdrehungen für gut 4 Knoten, tatsächlich fahre ich aber mit 5,5 Knoten. Alles hat eine gute und eine schlechte Seite. Der Hafen von Peterhead jedenfalls ist tief genug, da brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Auch das Anlegemanöver ist ohne Wind viel leichter.

Küstenlinie zwischen Macduff und Fraserburgh

Mit ordentlicher Geschwindigkeit nähere ich mich Fraserburgh. Der dortige Hafen ist nur für Notfälle von Segelbooten anzulaufen, es ist ein Industriehafen ohne Schwimmstege oder Sanitäranlagen – wie Macduff. Aber ich will hier auch gar nicht hinein. Eigentlich will ich mich um mein Mittagessen kümmern, später dann das Spiel unserer Eintracht gegen Wolfsburg im Radio hören und zuletzt gemütlich in die Marina fahren. Die Segelbootfallen und Fischerboote machen mir einen Strich durch die Rechnung. Immer wieder tauchen die Bojen von Hummerfallen vor mir auf, ich muss sie umfahren. Außerdem sind sowohl professionelle Fischerboote als auch Freizeit-Angelboote zuhauf unterwegs. Die sind alle nicht auf dem AIS und wollen mit den Augen entdeckt werden.

Angler

Des weiteren beginnt ein Bereich mit blödem Schwell. Ich folge im Prinzip der Kurslinie von Lycka. Das kleine Boot ist von einem älteren Ehepaar gesteuert. Sie mögen keine großen Wellen und ich blöder Idiot glaube, dass sie nur so dicht an der Küste fahren, weil die Bedingungen heute so hervorragend sind. Bei meinen letzten Passagen bin ich viel weiter draußen gewesen und wurde trotzdem ziemlich durchgeschüttelt.

Fraserburgh und Wellen aus allen Richtungen

Die Wellen sehen nicht beeindruckend aus, doch sie kommen aus allen Richtungen und schütteln mich durch. Das Problem mit den Hummerkörben besteht weiterhin. Nur die Freizeit-Angelboote sind hier nicht mehr unterwegs. Ich fahre wieder etwas weiter draußen, halte mich mehr oder minder an die 30 Meter Tiefenlinie und schalte den Radiostream an. Noch steht es 0:0. Ein paar Schokoriegel ersetzen manchmal eine vollständige Mahlzeit. Dazu ein paar belegte Brote, irgendwas ist immer zu finden. Ich traue mich nicht, den Platz im Cockpit für mehr als ein paar Sekunden zu verlassen. Ein Torwartfehler sorgt für das 0:1. Über Funk muss ich mir die Erlaubnis holen, in Peterhead einzulaufen. Ich habe Glück, es läuft kein Frachter aus. Ich darf sofort in die Marina fahren. Dort finde ich schon die Freyja und die Lycka. Die wollten doch eigentlich schon viel weiter sein. Deren Hilfe beim Anlegen ist mir heute hochwillkommen, denn ich vergeige das Anlegemanöver komplett.

Mikado

Ich gehe zum Kühlschrank, um mir das Anlegegetränk zu holen. Dabei entdecke ich, dass die Spaghetti aus ihrer Tüte gehüpft sind und ein Mikadospiel aufgebaut haben. So sei es. Ich schwätze mit der Lycka. Die beiden jammern über die schlimmste Fahrt bei Rattray-Head, die sie bisher in ihrem Leben hinter sich gebracht haben. So schlimm wurden sie noch nie durchgeschüttelt. Ich kann mit meiner ruhigsten Fahrt kontern, doch es war dennoch keine angenehme Reise. Die Lycka will heute Nacht mit der nächsten Tide weiterfahren.

Sissi in Peterhead

Mit der Skipperin der Freyja unterhalte ich mich auch. Auch diese Gruppe will heute Nacht mit der nächsten Tide raus. Das kommt für mich nicht in Frage, ich bin noch müde von der kurzen letzten Nacht. Irgendwie kommen wir auf das Schleusenmanöver in der Seeschleuse zu sprechen. Der Werfer der Heckleine hat nicht getroffen, dafür aber derjenige, der die Bugleine geworfen hat. Diese wurde dann von einem freundlichen Helfer an Land sofort festgemacht, deswegen kam es zu dem Stunt in der Schleusenkammer. Das Festmachen mit der Vorleine zuerst war nicht geplant, sondern ein Unfall.

Marina in Peterhead Bay

Ich habe keine Lust mehr zu kochen und spaziere in den Ort. Dort suche ich mir einen Pub, der neben den normalen, frittierten Pubgerichten auch Pizza anbietet. Auch preislich ist der Laden nicht schlecht, ich bekomme eine Pizza und ein Bier für 9,50 Pfund. Danach gehe ich wieder zurück an Bord und krieche sofort in meine Koje. So müde war ich um diese Uhrzeit schon lange nicht mehr.

Im Pub in Peterhead

Der Weg nach Whitehills

Ich stelle mir den Wecker für 6:30 Uhr morgens. Gestern habe ich Sissi noch von einem Kanalboot zu einem Segelboot umgebaut. Die langen Leinen für die Schleusen brauche ich nicht mehr auf dem Vordeck. Auch die meisten Fender sind schon wieder an ihrem Platz verstaut. Sissi ist segelklar, nur der Wind ist es nicht. Um etwa 8:30 Uhr ist Hochwasser, also will ich um 8 Uhr unterwegs sein. Vor mir liegen 60 Meilen nach Whitehills.

1.) Inverness Marina, Kessock Bridge
2.) Fortrose, Engstelle
3.) Lossiemouth, Ausweichhafen
4.) Whitehills, mein Ziel

Der Grund für die frühe Abfahrt sind die Strömungen. Ich bin zwar wieder auf der Nordsee, das ändert aber nur wenig an der Tide. An der Engstelle von Fortrose möchte ich auf keinen Fall gegen die Strömung fahren müssen. Deswegen bin ich auch gestern nicht nach dem Verlassen des Kanals losgefahren, sondern habe mich für eine Nacht in die Inverness Marina verlegt. Die ist rund um die Uhr zugänglich und damit perfekt für einen Start in die Tide. Im Kanal ist man von den Brücken- und Schleusenzeiten abhängig.

Kessock Bridge

Die hohe Kessock Brücke unterquere ich bei Stauwasser, es gibt praktisch keine Strömung. Das ist wirklich der beste Zeitpunkt, denn um die Brückenpfeiler können sich garstige Wirbel entwickeln. Mit genug Abstand zu den Pfeilern ist das natürlich kein Problem. Leider gibt es keinen Wind, ich wäre gerne ein paar Meter gesegelt.

Chanory Point bei der Engstelle von Fortrose

An der Engstelle habe ich einen schönen Schub von 1 kn Strömung. Genau so habe ich es eingeplant. Mit fallender Tide wird diese Strömung noch größer, doch meinen Tag habe ich anders berechnet. Bis nach Whitehills sind es 60 Meilen, also 12 Stunden Fahrt bei 5 kn. Ich möchte in Whitehills etwa mit dem nächsten Hochwasser ankommen und möglichst noch bei Tageslicht. Das verschwindet etwa gegen 20:30 Uhr. Man merkt, dass es Herbst geworden ist. Vor ein paar Wochen noch auf Islay gab es bis 22 Uhr Tageslicht. Außerdem sollen in der Nacht starke Regenfälle über das Land ziehen, denen möchte ich zuvorkommen.

Schleppverband kommt entgegen

Nach der Engstelle an Fortrose beginnt Sissi in den Wellen zu tanzen. Die Strömung schiebt mich weiterhin, doch ich darf wieder den größten Unterschied zwischen dem Atlantik und der Nordsee erleben. Der Atlantik ist tief, 100 Meter nach der Hafenausfahrt hat man üblicherweise 200 Meter Wassertiefe. Die Nordsee ist flach, heute werde ich den ganzen Tag nicht mehr als 20 bis 30 Meter Wassertiefe haben. Die Bucht, die in Inverness endet, heißt Moray Firth und hier herrscht immer eine böse Hackwelle. Das kommt von der geringen Wassertiefe. Lieber fünf Meter Wellenhöhe auf dem Atlantik als einen Meter hier. Doch ich muss da durch, ich habe es mir so ausgesucht.

Fanta aus zwei verschiedenen Ländern

Ich bin immer noch voll auf dem Fanta-Trip. Doch unterwegs kommt mir die Frage, ob ich alles richtig gemacht habe. Vor der Abfahrt in Inverness habe ich noch schnell eine Packung mit 18 Dosen Fanta aus dem Sonderangebot erstanden. Die auf den Azoren gekaufte Limonade geht langsam dem Ende zu. Die erste Dose Fanta vor dem Mittagessen ist lecker und erfrischend, sie hat den mir bekannten Geschmack. Die zweite Dose ist nicht mehr lecker, sondern schmeckt komisch. Es handelt sich um die britische Fanta.

Eine Marke, zwei Länder, zwei völlig verschiedene Zusammensetzungen

Ich gehe der Sache auf den Grund. In der portugiesischen Fanta sind 8% Orangensaft und eine Menge Zucker enthalten (steht an zweiter Stelle der Zutatenliste). Die britische Fanta hat nur 3,7% Orangensaft und noch 1,3% Zitrone. Auch sie enthält so viel Zucker, dass er an zweiter Stelle auf der Zutatenliste auftaucht. Dazu kommen dann noch verschiedene Zuckerersatzstoffe (Acesulfame K, Sucralose). Es verändert definitiv den Geschmack! Dafür ist es viel gesünder, denn die britische Fanta enthält nur 267kJ Energie und die portugiesische bringt 267 kJ in die Dose. Die Nährwerte sind exakt gleich! Aber alles ist der britischen Zuckersteuer geschuldet und geht über meinen Horizont.

Regenbogen vor dem Bug

Schottland wäre nicht Schottland, wenn es nicht täglich wenigstens einen Regenschauer geben würde. Nachdem es den ganzen Morgen schon trüb und bedeckt war, zieht am frühen Nachmittag ein dickes Regenband über Sissi hindurch. Nach dem Abspülen wird es wieder hell. Ein wunderschöner Regenbogen wird von der Sonne angeleuchtet, bevor sich die nächste Regenwolke über Sissi ergießt. Derweil lausche ich den Nachrichtensender von BBC Schottland. Die neue britische Regierungschefin wird in ihr Amt eingeführt. Die schottische Regierungschefin friert die Mieten und die Preise für Bahntickets ein. Das ganz große Thema hier ist das der Lebenshaltungskosten. Dabei sind die Preise im Vergleich zur Karibik noch gering. Allerdings habe ich die Karibik verlassen, bevor der Ukraine-Krieg sich dort auf die Preise ausgewirkt hat. Inzwischen höre ich aus Aruba ganz andere Geschichten. Im Prinzip müssen hier wie dort die Menschen bei einem geringeren Einkommen als in Deutschland höhere Preise für Lebensmittel bezahlen.

Wo steht der Topf mit dem Gulasch am Ende des Regenbogens?

Natürlich schaffe ich es nicht bei Tageslicht bis nach Whitehills. Obwohl ich den Mercedes quäle und mit einer Drehzahl für 5,5 kn rotieren lasse, schaffen wir oft nicht einmal die vier Knoten. Die Wellen bremsen viel zu viel. In den Regenschauern kommt dann teilweise noch kräftiger Gegenwind hinzu. Trotzdem steht Hafenmeister Bernie um 21:30 Uhr noch bereit und fragt mich, ob ich diesen Platz am Pontoon nehmen möchte. Freyja hat den Platz ausgeschlagen, obwohl sie einen Meter kürzer als Sissi ist und ein Bugstrahlruder hat. Freyja parkt in zweiter Reihe. Ich zirkele Sissi gekonnt in die enge Parklücke und bin stolz auf mich. Bernie hilft mit den Leinen. Ein weiterer Abschnitt ist geschafft.

Sissi in der engen Parklücke