Bergfest

Seit dem Mittag schweigt der Motor wieder still. Wir segeln gemütlich mit knapp 4 kn vor uns hin. Endlich ist wieder Ruhe im Boot. Die Tankanzeige sagt, dass wir etwas mehr als 100 Liter Diesel verbrannt haben. Also ist es Zeit nachzutanken. Wir haben 100 Liter in Kanistern dabei, die jetzt in den Tank passen. Tanken ist einfacher, wenn die See ruhig ist.

Nach vier von fünf Kanistern frage ich Jens, wie viel die Tankanzeige jetzt anzeigt. Es ist genug Platz im Tank. Allerdings nur für 10 der 20 Liter aus dem letzten Kanister. Dann läuft der Tank gründlich über. Bäh. Eine Sauerei. Wir müssen den ganzen Diesel wegmachen. Jetzt stinkt unsere Hochsee-Mülltonne nach Diesel. Aber der Tank ist wieder voll, wir haben etwas weniger verbraucht als abgelesen. Das könnte möglicherweise mit der Krängung nach Steuerbord und dem Steigrohr zum Ablesen an Backbord zusammenhängen.

Ein Drittel des Tanks wird wohl mit der nächsten Flaute draufgehen, die wir schon kommen sehen können. Sie wird uns heute in der Nacht erwischen. Die anderen beiden Drittel heben wir noch auf für die letzten tausend Meilen.

Am frühen Nachmittag sehen wir plötzlich ein Segelboot voraus, es ist auf einem ähnlichen Kurs unterwegs wie wir. Auf dem AIS ist es nicht zu sehen, es hat wohl keinen Sender. Ich rufe es über Funk, doch die Antwort besteht aus statischem Rauschen. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass wir alle Boote um uns herum auf dem AIS sehen können. Das andere Boot ist – wie könnte es anders sein – etwas schneller als wir und nach ein paar Stunden sehen wir nur noch die Mastspitze.

Gegen 1:30 Uhr wird der Himmel trotz des Vollmondes immer dunkler. Eine Mondfinsternis beginnt. Das erste Mal, dass ich dieses Naturschauspiel in voller Länge mitten auf dem Ozean erleben darf. Die weiße Scheibe wird gelb, dann orange, dann schwarz. Immer mehr Sterne kommen zum Vorschein. Ich wecke Jens gegen 1:45 Uhr, damit er auch etwas davon hat. Kurzzeitig kommt er nach oben und geht dann schon wieder schlafen. Um 2 Uhr ist es zappenduster. Nur die Sterne leuchten noch am Himmel.

Jetzt ist es passiert! Um 2:15 Uhr vermeldet der Bordcomputer, dass die Reststrecke kürzer ist als die bislang zurückgelegte Strecke. Wir haben den Gipfel erreicht und müssten Bergfest feiern. Kurz erwäge ich, Jens ein weiteres Mal zu wecken, verwerfe den Gedanken aber und bleibe mit den Augen beim Mond. Langsam wird er wieder heller. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Mondfinsternis so lange dauert. Leider zieht sich der Himmel immer mehr zu, bei der Wachablösung ist es wieder dunkel, der Mond versteckt sich hinter der Wolkendecke.

Am frühen Morgen wache ich auf. Jens hat den Motor gestartet. Die erwartete Flaute kam ein paar Stunden später, doch ist gekommen. Diesmal ist unser Bergfest ganz unspektakulär verlaufen, wir haben es nicht gefeiert. Es wäre auch unfair von mir gewesen, Jens in seiner Tiefschlafphase wegen des Bergfestes zu wecken.

Wir sparen Diesel, gehen mit der Drehzahl auf 1000 Umdrehungen herunter. Das reicht noch für knapp vier Knoten. Stefan rät uns, etwas Diesel für die letzten Meilen nach Horta zu sparen. Es deutet sich eine größere Flaute an. Mal sehen, wie unser Verbrauch bei dieser Geschwindigkeit ist. Uns stehen noch 24 Motorstunden bevor, bis wir wieder Wind haben werden.

12. Etmal: 105 nm
Position: 32°16’N 53°47’W
Reststrecke: 1277 nm
Bisher zurückgelegt: 1360 nm

Ein Tag in den Doldrums

Der Motor wummert, im Salon ist es unerträglich warm. Als hätte jemand die Heizung angestellt. Es hat ja auch jemand die Heizung angestellt, das war ich selbst. Der Verbrennungsmotor kann den Propeller nur drehen, wenn er Diesel verbrennt. Heizöl für unsere lärmende Ölheizung, deren Benutzung immer noch besser ist, als antriebslos herumzueiern. Die Klabauterleute zwitschern mir ins Ohr.

„Sie möchten nicht in der Flaute festhängen? Sie lieben das spiegelglatte Wasser nicht? Sie haben den Motor gestartet? Haben Sie genug Treibstoff? Sie finden uns auf jeder Wetterkarte. Wir können unsere Form verändern, schneller als Sie es für möglich halten. Wir können unsere Lage verändern, schneller als Ihr Boot fahren kann. Nehmen Sie sich die Zeit, sparen Sie Ihren Diesel, genießen Sie ihren Ausflug zu den Doldrums. Wir schicken Ihnen noch ein wenig alte Dünung, Segelboote unter Motor schaukeln so lustig.“

Ich gönne mir eine Dusche mit warmem Wasser. Die Wasserleitung ist im Motorraum verlegt, so dass immer etwas warmes Wasser in der Leitung steht. Durch die Motorfahrt und die daraus resultierende Kursänderung sind wir den Delfinen noch einmal begegnet.

Damit wir nicht so stark schaukeln, haben wir das Großsegel stehen gelassen. Es dämpft unsere Bewegungen zumindest ein bisschen. Liebe IJsselmeer-, Nordsee- und Ostseesegler, wir haben unseren Motorkegel nicht gesetzt. Der liegt noch originalverpackt im Schrank. Für wen sollten wir ihn hochziehen?

Die Wettervorhersage lässt uns hoffen, dass wir in der Nacht den Lärm wieder abstellen können. Bis dahin werden unsere Batterien voller als vollgeladen sein. Ich greife noch etwas Strom für den Watermaker ab, doch die 10A fallen kaum ins Gewicht. Die sind in unseren normalen Stromverbrauch eingepreist. Jens schlägt vor, über den großen Inverter einen Heizlüfter zu betreiben. Doch so weit im Norden sind wir noch nicht. Tagsüber haben wir Temperaturen um 28°C, in der Nacht kühlt es sich auf 24°C ab. Wir schalten den 110V Inverter ein und verbrauchen etwas Strom mit dem Ventilator.

Leider sind mir mit dem verstorbenen Tablet auch einzelne Mailadressen verloren gegangen, so zum Beispiel die von Soraida. Ich muss darauf warten, dass sie mir zuerst schreibt. Zuletzt haben wir vor über einem Jahr gemailt, als Barbara seekrank war und Soraida Medikamente in den Hafen von Barcadera gefahren hat. WhatsApp nutzt hier auf hoher See nichts.

Auf der Suche nach ein paar Dosen Cola für den Kühlschrank finde ich noch einen Liter Milch. Jens und ich freuen uns auf die Käsesauce heute Abend. Neben der Cola kommen noch zwei Gläser in den Kühlschrank. Wir feiern heute mit Cola-Rum, dass wir die erste Etappe unserer Reise hinter uns gebracht haben. Ab sofort können wir mehr oder minder direkt auf unser Ziel zufahren. Eine erste Abschätzung sagt, dass wir dann für die 2000 Meilen Luftlinie ca. 2500 Meilen unterwegs gewesen sein werden.

Nach dem gestrigen Beitrag geht sehr schnell eine Email bei mir ein. Maila von der Samai hat unsere Delfine als Indische Grindwale in einem Buch über Delfine und Wale gefunden. Oder sind es nur einfache Große Tümmler? Unsere Schwester Christine meint, dass wir von Großen Tümmlern begleitet worden sind. Ich habe keine Ahnung, doch es war ein außergewöhnliches Erlebnis, in der Ruhe die Tiere zwitschern zu hören.

Um 2:30 Uhr in der Nacht dreht sich der Propeller unseres Windgenerators wieder stetig. Das Großsegel steht auch wieder einigermaßen im Wind. Ich ziehe die Genua raus und stelle den Motor aus. Endlich Ruhe. Ich darf nachher schlafen, ohne das Gebrüll des Motors hören zu müssen. Ruhig fährt Sissi mit 3,5 kn auf unser Ziel zu.

„Sie wollen segeln? Aber doch nicht hier. Wir können jederzeit wieder für Windstille sorgen. Sie glauben, es hinter sich gebracht zu haben? Wir spielen mit dem Wind. Wir sind die Doldrums.“

Irgendwann am frühen Morgen kurbelt Jens wild an der Winsch. Er rollt die Genua ein. Wir müssen den Motor wieder starten. Der Wind ist wieder komplett weg. Mmmpf.

11. Etmal: 121 nm (fast nur Motor)
Position: 31°45’N 55°41’W

Willkommen bei den Doldrums

Die Segel schlagen, der Wind nimmt immer mehr ab. Wir können es nicht mehr leugnen, wir haben die berüchtigten Doldrums erreicht. Es ist früher Nachmittag und ein laues Lüftchen von ein bis zwei Windstärken weht noch. Zum Glück ist die See sehr ruhig, sonst könnten wir mit diesem Wind nicht mehr fahren. Wenn hin und wieder eine größere Welle durchgeht, knallt das Segel ein wenig.

Wir hoffen, noch bis morgen Vormittag mit zwei bis drei Knoten dahin schleichen zu können. Dann ist laut der Vorhersage Schluss mit dem Wind. Es ist sehr ruhig geworden auf Sissi. Es fehlt das Pfeifen des Windes in den Wanten, das Surren des Windgenerators und das immer wieder kommende krachende Einsetzen in die Wellen, gegen die wir segeln. Ein leichtes Gluckern des Wassers. Ein wenig Knarzen im Gebälk. Das Trinkwasser schwappt in den Tanks.

Eigentlich sagt man ja nicht „bei den Doldrums“ sondern „in den Doldrums“, doch ich stelle sie mir wie kleine Klabauterleute vor.

„Willkommen bei den Doldrums. Wir glätten die See. Stellen Sie sich ein auf ein Erlebnis der ganz anderen Art. Sie sind mitten auf dem Atlantik und der Wind ist weg. Wir sind in keiner Seekarte verzeichnet. Wir lieben es, uns auf dem Ozean auszubreiten. Du siehst uns nur in der Wetterkarte. Wir sind mal hier und mal dort. Wir regeln den Verkehr.“

Den Verkehr regeln sie wirklich. Nördlich der Doldrums segelt man nach Osten, nur dort kann man die westlichen Winde finden. Südlich blasen die Passatwinde, das ändert sich nie. Der Tag zieht sich, obwohl wir segeln und gar nicht so langsam sind. Das Boot ist so ruhig. Wir bauen uns eine Playlist mit Liedern, die alle mindestens 12 Minuten lang sind, die wir dann aber nicht bis zum Ende durchspielen lassen können. Es dauert zu lange. Das Abendessen fand vor zwei Wochen immer gegen 19:30 Uhr statt. Gerade steht Jens am Herd, das Essen ist fast fertig und es gerade einmal 17:15 Uhr.

Während ich noch den Sonnenuntergang genieße, sehe ich im Wasser immer wieder Plastikmüll an Sissi vorbei treiben. Am nächsten Morgen segeln wir tatsächlich immer noch. Wir fahren noch langsam mit 2,5 kn. Jens meint, dass er den ganzen Morgen eine Menge Plastikmüll an uns hat vorbei treiben sehen. Ich glaube, dieser Müll ist überall im Ozean zu finden. Man sieht ihn aber normalerweise nicht, weil die Wellen so hoch sind. Nennenswerte Wellen haben wir keine mehr. Wir werden bald den Motor starten müssen.

Wir sitzen beide im Salon und warten darauf, dass es Mittag wird, ich meinen „Bürokram“ erledigt habe und den Blog versenden kann. Vogelgezwitscher dringt in unsere Ohren, aber eben nicht ganz wie Vögel. Quietscht etwa die Aufhängung des Herds in der leichten Dünung? Nein. Ich gehe nach oben, suche die Vögel und finde neben uns zwei riesengroße Delfine, die mindestens drei Meter lang sind. Ich habe noch nie so große Delfine gesehen in meinem Leben und rufe Jens, der innerhalb von Sekunden mit der Kamera bereit steht. Diese Gespräche der Delfine untereinander habe ich noch nie so gehört. Das Schiff war immer lauter als die schwimmenden Begleiter. Heute fahren wir so ruhig, dass wir diese Geräusche gut hören können.

10. Etmal: 94 nm
Position: 31°18’N 57°56’W