Nach mehr als einem Jahr greife ich noch einmal in die Tasten, durchwühle meine Bildarchive und stottere einen Text hin. Wie ging die Geschichte weiter? Wie sieht die Zukunft aus?
Ich habe Sissi von den Werftleuten in Stavoren anschauen lassen und wir haben einen Plan gemacht, das Boot so schnell wie möglich wieder ins Wasser zu bekommen. Außerdem habe ich die Reste des extrem bleihaltigen Antifoulings aus der Karibik herunter schrubben und ein EU-Antifouling (wahrscheinlich zur Zubereitung von Säuglingsnahrung geeignet) auftragen lassen. Alle zwei bis drei Monate fahre ich außerdem direkt nach Stavoren und kümmere mich um die Kakerlaken (bzw. das, was noch davon übrig ist). Die letzte tote Kakerlake finde ich im Sommer 2023. Ich lege jedoch noch den ganzen Rest des Jahres Gift aus. Allerdings mache ich mir langsam Sorgen darum, ob ich in 2023 noch ins Wasser komme.
Ich bin etwas sauer auf die Werftleute, die mich nicht darüber informiert haben, dass eines der Seeventile komplett von außen korrodiert ist und jederzeit ins Innere von Sissi fallen kann. Dann würde sie in wenigen Minuten sinken. Mit der Werft vereinbare ich den Austausch dieses Seeventils und weitere Arbeiten. Ich bekomme sogar schon eine Rechnung über den halben Betrag, die ich auch bezahle. Aber es geschieht nichts. Bei den Arbeiten gibt es keinen Fortschritt. Es wird Herbst, die Bundesliga fängt wieder an und Sissi steht in der Halle.
Das obenstehende Foto entstand während des Spiels gegen Dortmund. Man könnte sagen, dass ein 3:3 gegen Dortmund eigentlich gut ist, doch die Eintracht hat den Sieg auf den letzten Metern vergeben. Ich nehme mir immer wieder vor, in Holland anzurufen und bei der Werft etwas Druck zu machen. Dabei bleibt es.
So lebe ich mein Leben hier in Frankfurt. Sissi ist nicht mehr präsent in meinem Leben, außer wenn es um die Bezahlung von Rechnungen geht, die in unregelmäßigen Abständen aus Holland eintreffen. Wartung der Rettungsinsel. Streichen von Antifouling. Stellplatz in der Halle. Mein neuer Job ist anspruchsvoll und verlangt viel Zeit. Nach einer 40-Stunden-Woche bin ich fix und fertig. Dazu tritt mir die DB immer wieder gegen das Schienbein, wenn ich mal wieder das Home-Office verlasse und das Büro in Wiesbaden aufsuche. Für die Fahrten zu Sissi finde ich die Lösung, einfach ein Auto zu mieten. Das ist günstiger als eine Fahrkarte und zuverlässiger als die DB. Selbst die Staus bei Köln halten mich nicht so sehr auf, wie eine Stellwerksstörung in Oberhausen.
Der Herbst ist vorbei, der Winter kommt, die Temperaturen fallen. Jetzt kann ich Sissi monatelang alleine lassen. Ich überwinde mich und rufe doch bei den Holländern an, habe ein längeres Telefonat mit dem Chef der Werft. Wir vereinbaren einen Zeitplan, um Sissi im Frühjahr 2024 wieder ins Wasser zu bringen. Kurz vor Weihnachten bin ich guter Dinge, dass sich alles einrenken wird.
Immer gerne gesehen als Gäste sind die Bayern. Kurz vor Weihnachten macht mir die Eintracht ein schönes Geschenk. Das Geschenk ist nicht das Ergebnis, das Geschenk ist eine Erinnerung, die in mir hochflammt. Im November 2019 war die Welt noch in Ordnung. Das Corona-Virus war noch nicht erfunden und wir lagen in Lagos (Portugal). Und die Eintracht putzte Bayern mit 5:1 weg. Wir waren grenzenlos optimistisch und neugierig auf unseren ersten Ozean. Genau wie all die anderen Segler um uns herum. Einige haben wir später wieder getroffen, litten mit ihnen unter den Corona-Beschränkungen.
Das Jahr 2023 geht, 2024 kommt. Sissi steht weiterhin in der Halle herum. Ich fliege in die Karibik und habe nur wenig Flugscham. Immerhin bleibe ich drei Wochen in Aruba. Die Werft hat mir zugesagt, das Sissi bis Ostern fertig sein wird. Das ist doch schön, dann kann ich die schöne Jahreszeit mit dem Boot verbringen und mich vorher noch in der Karibik erholen. Fast 12 Monate hatte ich keinen Urlaub.
Die einzige Leistung der Werft bis Ostern ist die beauftragte Gasprüfung. Natürlich kommt die Rechnung innerhalb weniger Tage. Die Gasleitung muss erneuert werden. Im Mai treffe ich meine Entscheidung.
Ich werde Sissi verkaufen oder verschrotten. Ich kann mir das Boot nicht mehr leisten. Dabei geht es nicht um die finanzielle, sondern um die mentale Belastung. Außerdem kann ich in Frankfurt mit einem hochseetauglichen Segelboot nichts anfangen. Wenn Sissi im Wasser wäre, müsste ich für mehrere Jahre meinen Urlaub quasi verpfänden und mich um die Reparaturen kümmern. Und ich wäre praktisch auf immer an die Urlaubsregion Friesland gebunden. Zumindest noch bis 2037, wenn ich hoffentlich in Rente gehe. Die erste Bootsbesichtigung findet ein paar Wochen nach dem Inserat statt. Die Interessenten verlieben sich sofort in das Boot und schauen besonders gründlich hin. Dabei fällt ihnen ein Schaden am Rumpf auf, der mir bislang unbekannt ist. Autsch. Ich justiere den Verkaufspreis in der Anzeige nach unten, habe mehrere Telefonate mit potentiellen Käufern und komme nicht weiter.
Außerdem gebe ich meine Dauerkarte an den Fanclub zurück. Ich fühle mich nicht mehr wohl im Stadion. Die letzten Besuche waren eine Qual (und damit meine ich nicht die vielen unnötigen Unentschieden). Die Menschen haben sich während Corona ziemlich verändert, sind viel radikaler geworden. Das macht keinen Spaß mehr. Ich habe mich während Corona auch verändert. Wenn ich mit vielen Menschen an einem Ort bin, fühle ich mich nur noch in Ausnahmefällen wohl.
Dann meldet sich Schorsch. Er würde das Boot gerne ansehen. Da er praktisch vor Ort ist, darf er sich Sissi ansehen. Was will er dem Boot auch antun?
Schorsch ruft mich mehrere Male an und fragt mir Löcher in den Bauch. Warum ist das und das soundso? Wo ist dies und wo ist jenes? Nach zwei Tagen Besichtigung entschließt er sich zum Kauf. Er besucht mich in Frankfurt und wir unterschreiben den Vertrag. Vom 13. Juli bis zum 15. Juli fahre ich noch einmal nach Stavoren und erkläre Schorsch das Boot.
Als ich die Halle betrete, steht nur noch Sissi dort. Die Unterzeichnung des Kaufvertrages ist drei Wochen her. Schorsch hat das Boot ausgeräumt, meine letzten Habseligkeiten stehen in einem Pappkarton an Deck. Ich trage sie zur Enterprise.
Schorsch lädt mich zum Essen ein. Wir teilen unser Seemannsgarn. Er hat schon einige Schiffe in seinem Leben hergerichtet und freut sich auf Sissi. Die soll später in Griechenland wohnen. Sie wird nicht umbenannt, sondern weiterhin unter dem Namen Sissi segeln. Allerdings muss sich Schorsch von mir in Zukunft „sissy“ nennen lassen. Ich verstehe es nicht. Ich kann es nicht glauben. Schorsch hat zwei riesige Löcher in den Rumpf geschnitten und Sissi bekommt ein Bugstrahlruder…
Am nächsten Tag steuere ich die Enterprise über die A3 nach Frankfurt. Ich stehe in der Großbaustelle am Kreuz Kaiserberg fast eine Stunde herum. Zur Erheiterung starte ich den DB-Navigator und schaue mir die Zugverbindungen an. Mit dem Zug wäre alles viel schlimmer geworden. Ich freue mich für Sissi, dass es für sie eine Zukunft gibt.
Hiermit endet das Blog sy-sissi.de offiziell. Ich habe glaube ich wieder Spaß am Schreiben gefunden. Wenn ich weiter blogge, wird das unter ebbelex.de sein.