Ein Tag auf dem Atlantik hat eine helle und eine dunkle Hälfte. Ohne Fernsehen, ohne Radio und ohne Internet, ohne Straßenbeleuchtung in der Nacht, ohne Verkehrslärm, ohne Nachrichten und ohne Zeitung. Bordroutine hat sich eingestellt, wie immer auf den langen Seepassagen. Nur ist diese Seepassage jetzt schon länger, als die längste, die wir bisher hatten – nicht in Meilen, aber in Tagen. Dabei stehen wir erst am Anfang, der größte Teil der Strecke liegt noch vor uns.
Eine helle und eine dunkle Hälfte auf unserem Raumschiff, das durch die endlosen Weiten des Ozeans gleitet. Die helle Hälfte beginnt mit Kaffee, selbst gebackenem Brot und dem täglichen Gespräch zwischen Jens und mir über das Wetter. Nicht die Diskussion über das Wetter, wie wir sie zu Hause kennen. Nicht das Gemecker über zu hohe oder zu niedrige Temperaturen, über zu viel oder zu wenig Regen, sondern die Diskussion über den Wind und die beste Wahl unserer Route. In der Konsequenz sind wir heute eine Halse gefahren, fahren jetzt einen etwas westlicheren Kurs, der immer noch genug Südkomponente hat, um Mindelo gegebenenfalls erreichen zu können. Vielleicht können wir diesen Zwischenstopp auslassen. Das hängt vom Wetter ab.
Die helle Hälfte. Halse geht so: Zuerst klettere ich auf das Vorschiff und demontiere den Baum, mit dem wir die Genua ausgebaumt haben. Dann klettere ich wieder zurück ins Cockpit. Jens ändert den Kurs, den die Windfahne steuert, um ca. 60 Grad. Langsam ändert Sissi die Richtung. Ich werfe die Backbordschot los, Jens zieht die Steuerbordschot an. Jakob filmt das. Ich will einen Film über den Atlantik schneiden. So viele Halsen wird es nicht geben. Zuletzt gehe ich wieder nach vorne und montiere den Baum neu. Fertig. Es dauert etwa eine Viertelstunde von Anfang bis Ende.
Die helle Hälfte. Jens entdeckt, dass wir mal wieder eine Schraube am Windgenerator verloren haben. Die letzte hatte ich doch sorgsam eingeklebt. Also klettere ich rauf und klebe eine neue Schraube rein. Diesmal mit einem anderen Klebstoff, der hoffentlich besser hält. Das ist jetzt schon die dritte Schraube an dieser Stelle, die wir verloren haben. Diese Aktion filmen wir nicht. In vier Metern Höhe über dem Ozean auf dem Radar sitzend will ich nicht gefilmt werden.
Zuletzt findet ein weiterer Höhepunkt des Tages statt – wir duschen. Das Wasser ist noch ordentlich kalt, Badewannentemperatur hat der Atlantik nicht. Egal, es fühlt sich gut an. Die letzte Aktion in der hellen Hälfte ist die Zubereitung des Abendessens, das heute von Jakob gekocht wird. Die See ist ruhig genug, einen Anfänger an den Herd lassen zu können. Es gibt Gulasch aus der Dose mit frischem Lauch, der unbedingt weg muss. Dazu Reis. Eine einfache, leckere Mahlzeit. Beim Verzehr beginnt die dunkle Hälfte des Tages.
Eine helle und eine dunkle Hälfte. Die erste Wache in der dunklen Hälfte ist meine. Das war sie schon immer, auch bevor Jakob zu uns an Bord kam. Jakob hat die mittlere Wache von Mitternacht bis vier Uhr morgens. Dann kommt Jens dran. Dank unseres Anhalters haben wir beide je zwei Stunden Schlaf mehr. Das tut gut. In dieser Hinsicht hat es sich ausgezahlt, einen dritten Mann an Bord genommen zu haben. Ich lege eine Platte von Leonard Cohen auf, setze mich ins Cockpit und begeistere mich wie fast an jedem Abend über den tollen Sternenhimmel. Die dunkle Hälfte ist hier richtig dunkel.
Wir erwarten noch mindestens 20 helle und 20 dunkle Hälften, bei unserem Bummeltempo rechnen wir nicht damit, früher in Barbados anzukommen. Das Bummeltempo ist schneller, als wir mit der Maschine fahren können. Ein Radfahrer würde bei diesem Tempo fast schon umfallen vor Langsamkeit. Diese Zeilen entstehen während der dunklen Hälfte in meiner Wache, während der Kommunikationstablet versucht, eine neue Wettervorhersage herunterzuladen, die ich morgen mit Jens diskutieren werde. In der hellen Hälfte des Tages.
Die dunkle Hälfte. Ich werde im Bett hin- und hergeschleudert. Der Wind hat aufgefrischt. Eigentlich müssten wir reffen. Jens hat entschieden, dass er in der Nacht lieber keine Arbeiten auf dem Vordeck machen möchte, also lässt er mich schlafen und kämpft mit der Windfahne. Wir haben zu viel Tuch draußen, immer wieder luven wir an, immer wieder rolle ich von links nach recehts und zurück. Ich bin zu müde, um ich aus dem Bett zu quälen und gemeinsam mit Jens zu reffen.
Die helle Hälfte. Wir können es nicht mehr vor uns herschieben, wir müssen reffen. Jens demontiert den Baum, Jakob bedient die Winsch, das Segel wird etwas kleiner. Dann fängt Jakob an, auf seine Zähne zu beißen. Seine Kraft reicht nicht mehr aus. Weiter reffen geht nicht mehr. Die Furlex ist blockiert. Zum Glück nicht oben an der Mastspitze, sondern unten an der Seiltrommel. Wieder ist Arbeit angesagt, ich muss auf das Vordeck. Ein Überläufer verhindert, dass wir das Segel weiter reffen können. Denksportaufgabe: Wie bekommen wir den Überläufer aus der Reffleine, die unter Zug steht? Nach dem Lösen dieses Problem demontiere ich die komplette Verkleidung der Seiltrommel, dann entlasten wir die Reffleine und ich kann die Leine entheddern. Scheißgefummel. Wenn ich den Konstrukteur dieser Furlex in die Finger bekomme, wickele ich ihn mit der Reffleine um das Vorstag, dann dresche ich mit einer großen Latte auf ihn ein, bis er grün und blau ist. Die Demontage ist n
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leicht, die Montage eine wahre Drecksarbeit. Anschließend machen wir zwei Dosen Chili auf und backen ein Brot.
Die helle Hälfte. Wir haben das Wetter diskutiert und eine Entscheidung getroffen, wohin wir weiter fahren werden. Im morgigen Beitrag werde ich die Entscheidung bekannt geben. Wer raten möchte, sei aufgerufen, die einschlägigen Wetterseiten zu besuchen. Windy.com oder Windfinder.com können da entscheidende Hinweise geben. Noch eine dunkle und eine helle Hälfte.
5. Etmal: 137 nm
Position um 12 Uhr: N21°16′ W21°47′
Noch 315 Seemeilen nach Sao Vicente (Mindelo). Noch 2217 Seemeilen bis nach Barbados. Die gesamte zurückgelegte Strecke sind nun 583 Meilen.
Eigentlich wollte ich mich beim Segeln entspannen und nicht so viel arbeiten. Pustekuchen.