Deutschland ist ja auch das Land der Dichter und Denker. Und so denke ich mir, dass ich inzwischen ein prima Dichter geworden bin. Immerhin bin ich am Tag genau 221 Jahre nach Johann Wolfgang von Goethe geboren, genau wie er in Frankfurt am Main. All jene Stellen, die ich abgedichtet habe, sind bis jetzt wasserdicht geblieben. Meine motorenbedingte Aufschieberitis meldet sich wieder zu Wort. Also nutze ich den bewölkten Himmel, um ein letztes Meisterstück meiner Dichtkunst zu erschaffen. Die Relingstütze muss noch abgedichtet werden, außerdem die beiden Abflüsse der Badewanne. Mit etwas Klebeband, Schleifpapier, Pinsel und dem Rest Farbe mache ich mich ans Werk. Im Inneren des Abflussrohrs auf der Backbordseite ist schon so viel Farbe, dass ich mit dem Dremel ran muss. Erst muss ich die alte Farbe aus dem Rohr entfernen, dann kann ich mit den Malerarbeiten beginnen.
Die Reling muss ab. Jedenfalls ein Teil von ihr. Sissi gibt ein ungewohntes Bild ab und ich fühle mich komisch. Es fühlt sich so an, als könnte ich dort jederzeit ins Wasser fallen. Dabei bewegt sich das Boot nicht mehr als vorher. Es ist mehr das Gefühl als echte Unfallgefahr. Die Schrauben, die die Relingstütze halten, sind total fest. Sie wurden wahrscheinlich in den letzten 43 Jahren nicht bewegt. Zwei der drei Schrauben kann ich mit WD40 zur Zusammenarbeit überreden. Mit der dritten Schraube ist nichts zu machen. Sie wird von unten von einer 13er Mutter festgehalten. Ich suche den 13er Schlüssel. Nichts zu machen, ich brauche eine 13er Nuss.
Nach gründlicher Suche im Werkzeugkasten habe ich alle Nüsse in der Hand gehalten. 10er, 11er, 12er, 14er, 15er und viele mehr. Nur die 13er Nuss versteckt sich. Ich durchsuche beide Werkzeugkästen und kann sie nicht finden. Das ärgert mich, denn die 13er ist diejenige, die am meisten auf dem Boot benötigt wird. Die 13er und die 17er.
Ich bin kurz davor, mir gegenüber bei der Samai eine passende Nuss auszuleihen. Oder in den Baumarkt zu fahren und eine zu kaufen. Habe ich die 13er womöglich irgendwo im Atlantik versenkt? Mein Blick streift den Drehmoment-Schlüssel, der schon für die Motorinspektion bereit liegt. Meine Freude ist groß, denn ich habe die 13er Nuss gefunden. Sie steckt schon seit der Abfahrt in Holland auf eben diesem Drehmoment-Schlüssel.
Ein Problem gelöst, ein neues Problem geschaffen. Ich kann von hier unten so lange schrauben, bis die Sonne untergeht. Der Bolzen oben dreht sich mit. Michael von der Samai unterbricht sein Frühstück für mich und hält von oben mit dem Schraubendreher dagegen. Nun lässt sich der Fuß der Relingstütze ganz einfach entfernen.
Auch hier kommen nun wieder Klebeband, Schleifpapier, Pinsel und Farbe zum Einsatz. Es wäre ein sträfliches Versäumnis, jetzt nicht alles schön zu machen. Sonst muss die Relingstütze in Holland auch wieder runter, das möchte ich vermeiden. Ich vermute, es sind über kurz oder lang alle fällig, das mache ich dann aber lieber an einem Ort, an dem es weniger als 32°C im Schatten hat.
Jetzt darf die Farbe trocknen. Sollte ich jetzt nicht noch den Motorraum öffnen und mit der Arbeit beginnen? Die Softwareentwicklung ist zwar jetzt schon mehr als zwei Jahre her, die Methodik sitzt aber immer noch. Immer erst eine Aufgabe zu Ende machen, dann die nächste Aufgabe anfangen. Meine Entscheidung am heutigen Tag war pro Dichtkunst und damit contra Motor, also ziehe ich das jetzt durch. Morgen Abend soll die Reling wieder stehen und das Boot dicht sein. Diese Zeit braucht die Farbe zum Trocknen. Statt die zweite Baustelle anzufangen, räume ich erst einmal die benutzten Werkzeuge wieder zurück an ihre Plätze. Ich nehme die Sitzpolster über dem Fach für die Getränke und Werkzeuge ab. Dabei steigt mir ein süßlicher Geruch in die Nase. Im Getränkefach ist es feucht, eine Flüssigkeit steht auf dem Boden. Ich beginne, die Getränke zu retten.
Dose um Dose nehme ich in die Hand, spüle den braunen Schleim von der Unterseite ab und stelle sie zum Trocknen auf den Kühlschrank. Eine Dose Apfelsaft ist nicht mehr ganz prall und beginnt zu tropfen, als ich sie in die Hand nehme. Ich freue mich, dass ich den Übeltäter schnell gefunden habe. Allerdings ist noch so viel Apfelsaft in der Dose geblieben, dass die Sauerei im Fach nicht nur vom Apfelsaft kommen kann. Ist etwa Wasser an den Püttingen bis in das Getränkefach durchgelaufen? Denkbar. Über mehrere Wochen war gar keine Dichtmasse vorhanden. Dadurch kann die sowieso schon durch Salzwasser angeschlagene Dose Apfelsaft durchgerostet sein. Und dann noch ein paar Tage Gärung, das bringt den leckeren Geruch. Leider ist es nicht so. Eine Dose Apfelwein ist kaputt gegangen und komplett leer. Passt zur Flüssigkeitsmenge und zum Geruch. Ein trauriger Tag. Die überlebenden fünf Dosen wandern zur Sicherheit in den Kühlschrank. Ich denke, ich werde sie in den nächsten Tagen leeren, bevor noch mehr von ihnen kaputt gehen.
Der Verlust von Apfelwein weit abseits der Heimat ist ein herber Verlust.
Inzwischen konnte ich die restlichen Dosen kontrolliert vernichten. Damit ist weiteren Verlusten vorgebeugt.