Sissi ist klar zur Abfahrt. Die Tide ist klar zur Abfahrt. Nur der Wind ist es nicht. Er drückt mich immer wieder in die falsche Richtung auf den Steg. Eigentlich habe einen Plan, meine Box in Peterhead zu verlassen. Nur der Wind spielt nicht mit. Wie zum Geier soll ich die Vorleine und die Achterleine einigermaßen gleichzeitig lösen? Meine Rettung ist am anderen Ende der Marina. Ich sehe ein aus dem Caledonian Canal bekanntes Gesicht. Der Besitzer der Rawanna ist gerade auf seinem Boot bei der Arbeit. Das Boot bleibt über den Winter in Peterhead und er schlägt die Segel ab. Natürlich hilft er mir. Über Funk hole ich mir die Erlaubnis, die Marina zu verlassen. Das ist in Peterhead Vorschrift. Ich soll wegen der großen Pötte, die gerade manövrieren, noch eine Viertelstunde warten. Zeit für einen Schnack.
Bei meinem zweiten Versuch bekomme ich die Erlaubnis. Das Ablegen klappt wunderbar, ich bin wieder unterwegs. Schnell kann ich den Hafen verlassen und der Tidestrom schiebt mich sofort wunderbar an.
Wie schön ist es doch, draußen auf dem Atlantik für Stunden, Tage oder Wochen geradeaus zu segeln. Dort draußen ist nichts. Dort ist man alleine unterwegs. Hier ist jede Menge Verkehr. Kleine Fischerboote bringen Segelbootfallen aus. Zwei Frachtschiffe kommen mir mit dem Ziel Peterhead entgegen. Doch schon nach einer guten Viertelstunde bin ich frei von den vorgelagerten Riffen und kann Segel setzen. Der Motor schweigt. Es ist ein schönes Gefühl, nachdem die letzten beiden Etappen ausschließlich Motorfahrt waren.
Wieder einmal überkommt mich etwas Wehmut. Nun verlasse ich Schottland und nehme Kurs auf England. Die Zeit in Schottland war schön, ich bereue den Umweg durch den Kanal nicht. Ganz im Gegenteil! Gestern Abend habe ich mich aufgrund der Wettervorhersage entschieden, nicht den direkten Kurs nach Holland zu nehmen, sondern erst einmal nach Newcastle upon Tyne zu segeln. Der Wind soll die meiste Zeit in ausreichender Menge und aus einer günstigen Richtung wehen. Die letzten Meilen werde ich dann motoren müssen, sonst schaffe ich es nicht mehr mit der Tide, den Fluss Tyne hinauf zu fahren. Doch bis dahin liegen noch knapp 150 Meilen vor mir.
Weiter und weiter entferne ich mich von der Küste und damit auch von den Segelbootfallen. Der Tag verspricht, ein perfekter Segeltag zu werden. Nicht zu viel Wind und nicht zu wenig. Die einzige Konzession meinerseits an die Nordsee ist, dass ich nicht mit dem Windpiloten fahre, sondern den elektrischen Autopiloten einsetze. So hält Sissi immer den Kurs, auch wenn die Segel nicht immer perfekt stehen. Auf diese Weise verspreche ich mir, dass es einfacher sein wird, die Heerscharen von Fischerbooten zu vermeiden.
BBC sendet immer noch im „Die-Königin-ist-tot-Modus“. Auf ruhige Musik folgen Reportagen über die Aufbahrung in Edinburgh und über die langen Warteschlangen, die sich gebildet haben. Dann kommen wieder O-Töne von Menschen, die sich an ihre persönlichen Erlebnisse mit der Queen erinnern. Langsam bekomme ich den Eindruck, dass die Dame jeden Briten irgendwann einmal persönlich getroffen hat und dass jetzt jeder Brite im Radio sein persönliches Erlebnis erzählt. Auf diese Weise lässt sich natürlich leicht die 10-tägige Staatstrauer überbrücken. Ein Regenschauer zieht durch.
Ich nutze die Zeit des Regens zur Zubereitung meines Abendessens. Immer wieder liest oder hört man, dass man vor mehrtägigen Segeltörns doch sein Essen vorkochen möge. Das müsse man dann nur noch aufwärmen. Ich halt das für Blödsinn. Auf See hat man doch sowieso nichts zu tun. Die Zeit in der Küche ist kurzweilig und man spart sogar noch Geschirr. Wenn ich das Essen vorkochen würde, käme es in eine Tupperdose. Die muss dann zusätzlich gespült werden. Auch der Topf bzw. die Pfanne zum Aufwärmen ist zusätzliches Spülgeschirr. Außerdem weiß ich doch gar nicht, worauf ich übermorgen Lust haben werde. Ich plane ja nicht „Lammsteak mit Gemüse und Bratkartoffeln“, sondern ich habe Zutaten im Boot. Die werden dann nach Lust und Laune verbraten. Ein aufgewärmtes Steak ist nur halb so gut wie das frisch gebratene. Die größte Herausforderung auf See ist außerdem nicht die Zubereitung der Mahlzeiten. Es ist die Nahrungsaufnahme. Die Speisen wollen immer wieder vom Teller herunter springen.
Inzwischen kommt der Radiosender nur noch schwach hinein, mehr und mehr stellt sich das Hochsee-Gefühl ein. Das Mobilfunknetz ist schon lange weg. Nur noch Aberdeen Coast Guard meldet sich regelmäßig mit Wettervorhersagen, maritimen Sicherheitsinformationen und Funksprüchen zu Lotsenbooten. Nach dem Abspülen schnappe ich mir ein Buch aus der Bibliothek, das ich noch nicht gelesen habe. „The Curfew“ von T. M. Logan. Schon nach wenigen Seiten entwickelt sich die spannende Geschichte. Ich liebe solche Abende auf See.
Nachdem die Sonne untergegangen ist, lege ich das Buch beiseite und versuche, in die Nachtroutine zu finden. Ich stelle den AIS-Alarm an. Richtig müde bin ich noch nicht. Trotzdem schaffe ich das eine oder andere Nickerchen auf der Couch. Es ist wie beim letzten Mal. Kaum bin ich weg gedämmert, schon klingelt der Wecker. Dann folgt ein mehr oder minder ausführlicher Rundumblick, ein Blick auf das AIS und die Routine beginnt wieder von vorne. Ab auf die Couch. Gegen 22:30 Uhr ist plötzlich richtig viel los auf meinem AIS-Bildschirm. Jede Menge Fischerboote scheinen ihre Arbeit zu verrichten. Ich klicke die beiden mir nächsten Schiffe an und habe sofort die Bestätigung. „Fischereifahrzeug“ steht in der Beschreibung. Klar, die See ist hier ein wenig flacher. Fischer sind immer dort in größeren Mengen zu finden, wo sich die Wassertiefen ändern. Ich sehe aber keine Probleme, mich durch den Fischer-Schwarm hindurch zu mogeln.
Ein Alarm weckt mich. Es ist nicht der AIS-Alarm und nicht der Wecker. Der Autopilot schlägt an und kann den Kurs nicht mehr halten. Warum? Wir haben doch genug Wind. Ich steige ins Cockpit und sehe die Katastrophe. Die Genua schwimmt neben Sissi im Wasser. Offenbar ist das Genuafall gerissen, das Seil, das das Segel nach oben zieht. Also muss ich das Großsegel ebenfalls runter nehmen, damit Sissi stehen bleibt. Dann darf ich auf dem schaukelnden Vordeck die Genua Stück für Stück an Bord ziehen. Eine Heidenarbeit, denn im Segel sammelt sich immer wieder kiloweise das Nordseewasser. Dann binde ich das Segel noch längs der Reling fest und ziehe das Groß wieder hoch. Erschöpft falle ich wieder auf die Couch. Wenige Minuten später knistert das Funkgerät. Ich höre, dass Sissi gerufen wird.
Kann man denn nie seine Ruhe haben? Ich gehe ans Telefon – äh – an den Funk. Eine Stimme mit osteuropäischem Akzent und ohne die hier sonst gewohnte britische Höflichkeit stellt sich mir als Wachboot vor. Die Stimme fragt mich, ob ich mir im Klaren darüber bin, das ich gerade in eine Windpark-Baustelle hinein segele. Bin ich mir nicht, sonst hätte ich es nicht getan. Das ist aber nicht meine Antwort. Ich antworte höflich und entschuldige mich. Das Wachboot gibt mir die Koordinaten zweier AIS-Bojen durch, um die ich östlich herumfahren muss. Ich markiere die Positionen auf meiner Karte und fluche innerlich. Auf diesem Kurs kann ich mit dem verbliebenen Segel keinen Stich mehr machen. Also kommt das Groß wieder herunter und der Mercedes wird geweckt. Dass die Bojen auf dem AIS senden würden, halte ich aber für ein Gerücht. Ich kann sie nämlich nicht sehen. Während ich um die Begrenzung herum dampfe, bleibt das Wachboot immer in der Nähe. Dann endlich kann ich wieder auf die Couch. Bevor ich wieder ein paar Minuten schlafe, mache ich mir noch Gedanken über aktuelle Seekarten. Meine neueste Seekarte ist vier Jahre alt. Die andere ist 12 Jahre alt. Doch eine solche Wachboot-Geschichte habe ich auch schon von der Lycka gehört. Die ist mit aktuellen Seekarten ausgestattet.
Am folgenden Morgen wäre der Motor sowieso zum Einsatz gekommen. Der Wind hat stark nachgelassen, der Seegang auch. Unter den jetzigen Bedingungen wäre es viel leichter gewesen, die Genua aus dem Wasser zu fischen. Pech. Nach dem Morgenkaffee nehme ich mir wieder mein Buch zur Hand. Es ist wunderschönes Wetter, die Sonne scheint. Ich komme der englischen Küste näher und näher. Irgendwann habe ich wieder Fetzen vom Mobilfunknetz. Es entwickelt sich ein Chat mit Gregor aus Frankfurt, der mich in Holland besuchen will. Er will vor dem Winter noch eine Runde auf Sissi drehen. Ich frage ihn, ob er in seinem Urlaub nicht Lust hat, nach Newcastle zu kommen und mich über die Nordsee zu begleiten. Er hat Lust. Damit werde ich die letzten 300 Meilen wieder einen Partner an Bord haben.
Bei der Anfahrt auf den Tyne-Fluss kommt mir noch das obligatorische Kreuzfahrtschiff entgegen. Außerdem darf ich meinen ersten Sonnenuntergang in England erleben, denn inzwischen hat der Tidestrom gedreht und bremst meinen Landeanflug.
Leider wird mir flussaufwärts die Strömung voll entgegen kommen, denn das Hochwasser ist jetzt seit einer halben Stunde vorbei. Eigentlich wollte ich nicht in die Royal Quays Marina neben dem Fähranleger für die Fähre aus Amsterdam. Die Marina ist irgendwo im Industriegebiet, in der Mitte von Nirgendwo. Doch die der Innenstadt nähere St. Peter’s Marina kann ich bei dieser Tide nicht mehr erreichen. Also nehme ich, was ich bekommen kann. Zuerst melde ich mich bei Tyne VTS (Kanal 12) an, der Verkehrsleitstelle für den Fluss Tyne. Dort erhalte ich die gute Nachricht, dass ich mit keinerlei Verkehr rechnen muss. Dann rufe ich die Marina auf Kanal 80. Mir wird eine sofortige Einfahrt in die Schleuse versprochen. Angesichts der hohen Kaimauern bitte ich um eine helfende Hand. Bei der Einfahrt in die Schleusenkammer muss ich dann fast lachen. Darin befindet sich ein Schwimmsteg. Es ist die komfortabelste Schleuse, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Hier hätte ich keine Hilfe gebraucht.
Der Schleusenwärter gibt mir noch einen Lageplan und die Codes für die Eingangstür, das WiFi und die Duschen. Außerdem weist er mir einen Platz zu und schleust mich anschließend nach oben. Ich mache am Kopf von Steg D fest, hier hätte Sissi zweimal dran gepasst. Angekommen. Ich trinke noch ein Anlegerbier, dann falle ich müde in meine Koje.