Finsternis

Die schlimmen und unangenehmen Dinge passieren immer mitten in der Nacht. Mitten in der Nacht brach unser Spifall auf dem Weg von Teneriffa nach Barbados. In stockdunkler Finsternis mussten wir den Parasailor aus dem Atlantik bergen. Das brachte uns einen Zwischenstopp auf den Kapverden in Mindelo, wo wir nicht nur das Spifall, sondern auch zwei Unterwanten ersetzen mussten. Auch der Riss im Parasailor, aufgrund dessen wir ihn bis zur Reparatur in St. Lucia nicht mehr benutzen konnten, entstand in der Nacht. In der Nacht fuhren wir fast rückwärts gegen eine riesige Tonne, weil unser Propeller nicht mehr richtig funktionierte. Nachts lief das Boot voll Wasser und der Pütting des Achterstags ist auch nachts gebrochen.

 

Doch zunächst zum zweiten Segeltag. Eike und ich spielen in der Mittagshitze ein paar Partien Schach. Die Konzentration auf das Spiel unter Deck führte dann doch zu einem mulmigen Magen. Okay, wir werden unsere Schachspiele an Deck verlegen müssen. Da die Zeit, in der wir beide wach sind, arg limitiert ist, werden wir wohl bis St. Kitts nicht mehr spielen können. Ein Nickerchen bringt den Magen wieder in Ordnung. Der Wind ist ziemlich schwach, unser Kurs Nord-Nordost wird immer mehr zu einem reinen Nordkurs. Die Ostkomponente ist aber besonders wichtig.

Ein grünes Dreieck erscheint auf dem AIS-Bildschirm. Es sieht für mich aus wie ein Segelboot auf Gegenkurs. Eine kurzer Mausklick und die Bestätigung ist da. Das Dreieck ist die Samai. Wir freuen uns, sie noch einmal zu sehen. Sie haben schon 10 Meilen uns gegenüber in Richtung Osten Vorsprung. Da sollten wir nicht nur über die Wende nachdenken, sondern ebenfalls auf Gegenkurs gehen. Gesagt, getan. Wir werden zwar langsamer, dafür machen wir wesentlich mehr Strecke nach Osten gut. Wir funken die Samai an und sprechen mit Michael, der wohl schon auf den Ruf gewartet hat oder selbst gerade zur Funke greifen wollte – so schnell hat er geantwortet. Auch bei Sandra, Maila, Samuel und Michael war die Nacht ruhig und alles ist in Butter. Nach einer Weile verschwindet das Symbol wieder, die Entfernung ist zu groß geworden.

Ich brate Zwiebeln, Knoblauch, frischen Blattspinat und Steaks, der ultimative Test auf Anfälligkeit für Seekrankheit. Kein Problem. Weder die Zubereitung noch der Genuss des Abendessens machen Eike Probleme. Wir glauben, dass er über den Berg ist. Kurz sitzen wir noch gemeinsam im Cockpit, dann geht Eike zu Bett.

Getreu dem Motto „bei viel Wind kann jeder Segeln“ verschwende ich meist nicht allzu viele Gedanken auf optimalen Segeltrimm. In der Passatzone gibt es meist reichlich Wind, bei zu hoher Geschwindigkeit bohrt sich aber der Bug in die Wellen. Also fahre ich gar nicht so gerne mit Höchstgeschwindigkeit. Eigentlich will ich mich auf die Couch legen, um mich für die Nachtstunden fit zu halten. Daran ist aber erst einmal nicht zu denken. Der wenige Wind lässt das Achterliek des Großsegels flattern. Das ist die Hypotenuse des Dreiecks, als das man sich das Segel auch vorstellen kann. Dadurch wird die lose Reffleine für das zweite Reff wild herumgeschleudert und schlägt gegen das Segel. Warum? Ich habe keine Ahnung.

Eike kommt wieder in den Salon. Er kann nicht schlafen. Sein Bett ist durch die Wende zur falschen Seite geneigt, er läuft Gefahr herauszufallen. Wir müssen damit leben, der Kurs ist viel besser als auf dem anderen Bug. Wir machen richtig Strecke gut. Ein paar Minuten später fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren. Ich habe vergessen abzudirken, dadurch kann das Segel nicht richtig stehen. Also muss ich an den Mast. Also muss ich Eike wieder aus dem Bett scheuchen. Ich bin manchmal auch ein Depp. Da segeln wir schon mehr als 24 Stunden und die Dirk fällt mir jetzt erst ein. Doch es gilt an Bord weiterhin die Regel, dass niemand das Cockpit verlässt, wenn er alleine ist. Das Segel steht jetzt schön, der Lärm ist weg.

Kohlrabenschwarz ist die Finsternis der Nacht. Keine Spur mehr vom gestrigen schönen Sternenhimmel. Den ganze Tag über war der Himmel schon bedeckt, wir haben nicht viel Solarstrom produziert, auch nicht viel Windstrom bei der schwachen Brise. Wenn ich jetzt den Kühlschrank abschalte, sollten wir aber durch die Nacht kommen. Plötzlich richtet sich Sissi auf, der Wind ist komplett weg, die Segel schlagen. Ich habe eine Befürchtung und versuche, das Boot wieder einigermaßen auf Kurs zu bekommen. Die ersten Regentropfen treffen mich, dann kracht eine heftige Bö in die Segel. Es fühlt sich an wie ein Squall. Der Windgenerator pumpt plötzlich Unmengen Ampères in das System, das kann ich an der Drehzahl hören. Sehen kann ich gar nichts, denn der Regen fühlt sich an, als würde eine ambitionierte Freiwillige Feuerwehr um die Wette löschen. Das Großsegel fängt den Regen schön ein, durch die Falte des ersten Reffs wird er dann in Gänze über mich geschüttet. Ich frie
re uns
zittere, mir ist saukalt. Ich fluche und brülle in den Wind. Eike fragt von unten, ob er helfen kann. Ich schicke ihn wieder ins Bett, es ergibt keinen Sinn, die ganze Crew zu löschen. Nach ein paar Minuten, die sich wie eine Stunde angefühlt haben, ist der Spuk vorbei. Der Wind schläft wieder ein. Ich schnappe mir ein trockenes Handtuch, trockene Klamotten und bin in kurzer Zeit wieder aufgewärmt. Es ist ja nicht kalt hier.

Anschließend darf ich den richtigen Kurs wieder einstellen und bin gerade im Salon angekommen, als der nächste Squall durchgeht. Noch einmal heftiger Regen. Diesmal sehe ich kurzzeitig die 20 Ampère auf dem Batteriemonitor. Fünf Minuten zu 20A bringt natürlich nicht viel, doch es zeigt das Potential.

Unfit ist wohl das richtige Wort für Eikes Zustand, als er mich auf Wache ablöst. Eigentlich ist es seine Uhrzeit, als Bäcker arbeitet er zu der Zeit, in der er nun die Wache auf Sissi hat. Aber er hat nicht gut geschlafen. Auch ich schlafe nicht gut, auf dem Steuerbordbug ist nur die Koje von Jens wirklich bequem. Die ist aber gerade mit Dingen belegt. Auftragsgemäß weckt mich Eike um sechs Uhr in der Früh, weil der Wind inzwischen wieder so weit gedreht hat, dass wir nur noch einen Kurs Süd-Südost fahren. Ich denke ein paar Minuten darüber nach, dann lege ich mich wieder hin. Erst wenn es eindeutig Südkurs ist, wird gewendet. Das passiert dann morgens um Acht.

Insofern ist unfit auch das richtige Wort für meinen jetzigen Zustand. In dieser Nacht hat keiner von uns gut geschlafen. Ich grantele üblicherweise am Morgen. An Land kein Problem, auf See muss ich mir das abgewöhnen. Eike bezieht es auf sich, das ist nicht gut für das Bordklima. Ich müsste meinen Morgenkaffee vor dem Aufstehen trinken, doch wie kommt der Kaffee zu mir ins Bett? Der Wind hat ein wenig aufgefrischt, schon morgens um 10 Uhr füllen sich die Batterien zusehends. Auch unser neuer Kurs Nordost gefällt mir. Es fehlen zwar noch ein paar Grad, um St. Kitts direkt anlegen zu können, doch heute Nacht haben wir trotz aller Widrigkeiten eine ordentlich Strecke nach Osten gut gemacht. Meiner Erfahrung nach ist der zweite Seetag der schlimmste. Also geht es ab morgen aufwärts.

2. Etmal: 77 nm
Entfernung nach St. Kitts: 340 nm

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