Total bekloppt

Jörg verhält sich in letzter Zeit etwas seltsam. Ich glaube, er verliert so langsam den Verstand. Immer öfter kann ich hören, wie er Selbstgespräche führt. Irgendwie kann ich das aber auch verstehen. Es ist hier doch sehr langweilig auf dem Schiff. Der Murmeltiertag liegt zwar schon eine Weile zurück, aber ich komme mir fast so vor wie in dem Film. Die Tage wiederholen sich.

Mein Tag beginnt Nachts um 03:00 Uhr, wenn Jörg mich zur Wachablösung weckt. Dann nehme ich mir ein Kissen und eine Decke (ja, Nachts fühlen sich 26 Grad mit etwas Wind doch recht kühl an) und lege mich ins Cockpit. Der Mond ist dann schon untergegangen und ich sehe die Milchstraße in voller Pracht. Ab und an verglühen Gesteinsbrocken aus dem Weltall über mir und hinterlassen für einen kurzen Moment eine leuchtende Spur am Himmel. Was ich mir wünsche bleibt mein Geheimnis.

Irgendwann nach Sonnenaufgang, das ist hier gerade um 06:00 Uhr, meldet sich mein Magen und ich mache mir ein Frühstück. Danach genieße ich es, im Cockpit zu sitzen und aufs Meer zu schauen. Gelegentlich sehe ich irgendeinen Wasservogel, der kurz eine Runde um Sissi dreht und dann weiter fliegt. Mehr passiert hier nicht.

Gegen 10:00 Uhr wird Jörg dann meistens munter und wir trinken zusammen Kaffee. Ich kann bei seinem Kaffeedurst oft kaum mithalten und muß um den Inhalt der Kanne kämpfen. Im Anschluß verschwindet Jörg wieder nach unten und erledigt seinen Bürokram. Ich bleibe so lange oben sitzen, bis sich die Sonne über das Cockpitdach gedreht hat und ich keinen Schatten mehr finde.

Den Nachmittag sitzen wir dann gemeinsam im Salon, lesen ein Buch oder schwätzen über dies und das. So überbrücken wir die Zeit bis zum Abendessen. Beim Kochen wechseln wir uns ab. Wer nicht kocht spült ab. Heute kocht Jörg seine Leibspeise. Es gibt Steak. Morgen werde ich eine Lasagne zubereiten. Wir hatten schließlich auf dem Atlantik nördlich der Karibik noch nie eine Lasagne. Das wird allerhöchste Zeit.

Nach dem Abendessen trinke ich gerne noch eine Orangina im Cockpit und sehe dem Sonnenuntergang zu. Dann ist mein Tag zu Ende und ich lege mich schlafen.

Es ist breits ein neuer Tag angebrochen als ich diese Zeilen schreibe. Jörg schnarcht leise in seiner Kabine. Er hat letzte Nacht ein frisches Brot gebacken. Ich stehe auf, um mir ein Frühstück zu machen. „Schneidest Du mir auch eine Scheibe ab?“, fragt das Täubchen. „Klar doch, aber das bleibt unter uns. Jörg darf nicht wissen das du noch auf dem Boot bist.“

In der dunklen Nacht

Die Sonne geht unter, Jens ist schon vor einer Stunde in der Koje verschwunden. Der Mond ist nicht zu sehen. Je weiter wir nach Norden kommen, desto später sehen wir den Sonnenuntergang. Der Wind weht angenehm mit drei bis vier Windstärken. Auf Halbwindkurs kommen wir gut voran. Die Zahl der Nächte, die ich noch im Cockpit verbringen werde, ist nicht mehr groß. Das Wetter ist unbeständig, Regen ist vorhergesagt. Ich lege mir Polster und Kissen auf die Bank, lege mich hin und beobachte, wie mit zunehmender Dunkelheit mehr und mehr Sterne am Himmel erscheinen. Ich fange an zu träumen und meinen Gedanken freien Lauf.

Krrrch. Krrrch. Geräusche kommen aus dem Funkgerät. Das nervt. Ich klettere die Treppe runter und stelle das Funkgerät leiser. Obwohl wahrscheinlich nicht ein einziges Schiff in Reichweite unseres Funks ist, empfangen wir diese Störungen von Zeit zu Zeit. Ich gehe zum Kühlschrank und nehme mir ein Bier heraus. Das gönne ich mir heute angesichts des herrlichen Sternenhimmels. Mein Papagei hüpft mir auf die Schulter. (*)

„Kommst du mit nach oben Sterne gucken?“, frage ich ihn. „Wenn ich auch ein Bier bekomme.“, lautet seine Antwort. Okay, denke ich, warum eigentlich nicht. „Wir verraten Jens einfach nicht, dass du sein Bier getrunken hast. Vielleicht merkt er es gar nicht.“ Der Papagei und ich genießen unser Bier unter dem Sternenhimmel.

„Was ist das für ein Sternbild?“, fragt mich der Papagei. „Meine Sterne-App funktioniert nicht mehr, seit sie offline ist und mir keine Werbung mehr einspielen kann.“ Ich habe wirklich keine Ahnung von Sternbildern. Den Großen Wagen erkenne ich, dann hört es aber auch schon auf. Ich habe aber keine Lust zu allzu viel Konversation und antworte kurz und knackig mit „keine Ahnung!“. „Und was ist dort drüben für ein Sternbild?“ „Keine Ahnung.“ „Und da?“

Langsam wird es mir zu bunt. „Weiß ich nicht, verdammt noch mal. Ich will Sterne gucken und nicht Sternbilder raten. Ich kenne die nicht.“

PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP

„Alarm! Alarm! Alarm!“, ruft der Papagei, „Du musst jetzt was machen! Alarm!“

PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP

Ich springe nach unten und deaktiviere den AIS-Kollisionsalarm. Warum hat er gefeuert? Weder im Cockpit noch unten auf dem Bordcomputer ist ein anderes Schiff auf dem AIS zu sehen. Aber der Alarm war deutlich zu hören. Auch Jens wurde geweckt. „Hi Jörg“, sagt er, „wen haben wir denn auf dem AIS zu bewundern? Einen Segler oder einen Frachter?“ „Nichts und niemand ist zu sehen.“, antworte ich und nehme das Fernglas mit nach oben ins Cockpit. Der Papagei ist nicht zu sehen, ein anderes Schiff allerdings auch nicht.

Plötzlich kreischt der Papagei von oben „Da taucht ein U-Boot auf!!!“. Tatsächlich. Offenbar ist der Alarm durch das U-Boot ausgelöst worden. Langsam geht der Mond auf, man kann etwas mehr sehen in der dunklen Nacht. Das U-Boot ist gelb und auf dem Turm steht mit schwarzen Lettern der Name Nautilus angeschrieben.

Plötzlich sieht man einen Mann oben auf dem Turm stehen. Er winkt. Irgendwie kommt mir sein Gesicht bekannt vor. Ich kann es allerdings nicht sofort zuordnen. „Hello sir, my name is John!“, spricht die Gestalt, die jetzt mehr und mehr vom Mond angeleuchtet wird. „Can you tell me the course to Liverpool please? My Yellow Submarine and I are lost.“ Mir wird sofort klar, mit wem ich es zu tun habe. Er ist gar nicht tot! „Mr. Lennon, it‘s great to see that you are alive. Your position is 34°37‘N 42°56‘W. You should sail course 60°. It‘s a honour to help you.“ Der Papagei ist inzwischen wieder neben mir gelandet.

Ich drücke dem Papagei einen USB-Stick in den Schnabel. „Flieg‘ rüber, bring‘ ihm die Seekarte und komm‘ nicht ohne ein Autogramm zurück.“ Der Papagei fliegt los und ist nach zwei oder drei Minuten schon wieder zurück. „John wusste nichts mit dem Stick anzufangen.“, spricht der Papagei. Er ist jetzt seit einem halben Jahrhundert unterwegs. Damals waren Computer noch nicht erfunden. Ein Autogramm hat er mir aber gegeben.“

Wir sehen beide dem gelben U-Boot beim Abtauchen zu. Komisch, vor 50 Jahren gab es auch kein AIS. Das Boot ist nicht mehr zu sehen. Es ist, als wäre nie etwas gewesen. Doch die Autogrammkarte halte ich in meinen Händen. Kaum zu glauben, John Lennon lebt. Vielleicht sehen wir noch ein Schiff mit Elvis. Die Autogrammkarte hat ein Loch, wo der Papagei sie im Schnabel gehalten hat. Leider ist es vorbei mit dem schönen Sternenhimmel, jetzt scheint der Mond.

PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP PIEP

Ich schrecke hoch, irgendwie muss ich eingedöst sein. Hatte ich den AIS-Alarm nicht gerade deaktiviert. Der Alarm geht aus. Ich gehe trotzdem runter, weil ich wissen will, warum er wieder gefeuert hat. Jens steht vor dem Computer und schaut mich etwas vorwurfsvoll an: „Kannst du den Alarm nicht schneller ausschalten? Er hat mich geweckt. Oder warst du eingeschlafen?“

Auf dem Bildschirm sehen wir einen 400 Meter langen Flüssiggastanker, dessen Kurslinie sich in knapp 30 Minuten mit unserer schneidet. Ich greife zum Funkgerät, wecke dessen Wachoffizier und der Tanker ändert schnell seinen Kurs. Irgendwie bin ich eingeschlafen und habe wirres Zeug geträumt. Um auf meiner Wache nicht wieder einzuschlafen, höre ich erst einmal eine Platte der Beatles.

Etmal: 104 nm
Position: 26°07’N 57°34’W

(*) Das kommt davon, wenn man die falschen Bücher liest. Ich muss zugeben, dass mir dieser Beitrag einen Riesenspaß gemacht hat.

Paradox

Unsere abendliche Routine ändert sich nicht. Jens geht gegen 20 Uhr in seine Koje und ich vertreibe mir die Zeit bis um 3 Uhr in der Nacht. Man merkt schon, dass wir ein gutes Stück in Richtung Norden gekommen sind, denn inzwischen kann man wieder von einer Abenddämmerung sprechen. Die Tage sind auch schon merkbar länger geworden. Abgesehen von der Temperatur fühlt es sich an, als würde man aus dem Winter in den Sommer fahren. Bei der Temperatur ist es umgekehrt, die sinkt in der Nacht schon merkbar.

Deswegen trage ich nachts inzwischen eine lange Hose, ein Kleidungsstück, dass ich erst einmal aus den Tiefen meiner Schränke ausgraben musste, weil ich es seit Jahren nicht mehr gebraucht habe. Sissi gleitet ruhig durch die Nacht, ich lese im Schein der roten Cockpitbeleuchtung die Känguruchroniken von Marc-Uwe Kling. Das ist eigentlich nicht die Literatur, die ich sonst lese, es sind aber die einzigen von mir noch nicht gelesenen Bücher an Bord. Währenddessen backe ich ein Brot.

Ich versende die Mitternachtsposition. Wir haben gut 60 Meilen innerhalb der letzten 12 Stunden zurückgelegt, doch die Tendenz bei der Windstärke zeigt nach unten. Die Vorhersage verspricht uns für die Nacht ein paar Stunden praktisch ohne Wind. Von durchschnittlich sechs Knoten am Nachmittag ist unsere Geschwindigkeit auf vier Knoten gefallen. Ich liebe es, die ersten Scheiben eines frisch gebackenen Brotes zu essen, denn dann ist es noch richtig knusprig. Bei der Ablösung am frühen Morgen fahren wir nur noch drei Knoten, die Kruste des Brots hat auch schon merkbar nachgelassen.

Zunächst beginnt die Nacht ruhig. Später rolle ich in meiner Koje hin und her. Das ist nicht normal. Es macht Klong, Klong aus der Takelage. Klickklickklickklickklick. Jens arbeitet an der Winsch. Rumms, wieder ein Schlag. Ich krabbele aus der Koje, Jens und ich sind uns einig, dass die Genua eingerollt werden muss. Die Schläge sind nicht gut für das Segel und das Rigg. Ich versuche, noch etwas zu schlafen. Das Boot rollt unangenehm. Ich rolle auch. Jens kommt und will auch das Großsegel runter nehmen. Ich bin einverstanden.

Während unseres Frühstücks treiben wir mit 0,7 Knoten wenigstens in die richtige Richtung. Jetzt wissen wir auch genau, wie viel Strömung uns hier noch schiebt. Der Windgenerator dreht sich kein Bisschen. Die Nacht hatte gravierende Auswirkungen auf unseren Stromhaushalt. Sissi bzw. unsere Kühl- und Gefrierkombination hat sich den fehlenden Strom aus den Batterien geholt. Wind ist für uns in mehrfacher Hinsicht wichtig, nicht nur zum Vorankommen (*).

Nach dem Frühstück können wir die Segel wieder setzen. Der Windgenerator dreht sich für 0,1A, das reicht aber für uns zum Segeln. Jetzt schleichen wir mit zwei bis drei Knoten über das Wasser. Immerhin ist das Schiff wieder ruhig. Es fühlt sich paradox an, dass das Schiff bei viel Wind ruhiger im Wasser liegt als ohne oder bei wenig Wind.

6. Etmal: 83,5 nm
Position: 25°08‘N 59°03‘W

(*) Der angekündigte Beitrag zum Thema Solarzellen und ihre Produktivität verschiebt sich flautebedingt um mindestens einen Tag.