Auf hoher See

Der Wind pfeift, sanft zischt das Schiff angenehm schaukelnd durch die Wellen, es ist ruhig. Die weißen Segel sind prall gefüllt. Die Sonne scheint vom blauen Himmel. Am Horizont ziehen die Möwen durch die Luft. Gelegentlich sieht man die Rückenflossen einer Delphinschule. In der Hand einen gekühlten Cocktail.

So oder so ähnlich mag sich der eine oder andere Anfänger das vorstellen, insbesondere wenn er noch nie auf einem Segelboot war. So sieht man es auch in den Prospekten der Hersteller von Segelbooten. Das ist jedoch Bullshit.

Der Wind passt eigentlich fast nie. Entweder gibt es zu viel Wind oder zu wenig. Bei zu wenig Wind torkelt das Schiff durch die Wellen, weil die Spannung fehlt, für die sonst die Segel sorgen. Weht zu viel Wind, sticht das Schiff oft in die Wellen hinein, es gibt heftige Schläge.

Manchmal scheint die Sonne. Dann brennt sie vom Himmel, wird vom Wasser gespiegelt und man muss die Augen zukneifen, um geblendet zu werden. Die Sonnenbrillen helfen nur bedingt. Manchmal regnet es. Dann sitzt man in Regenklamotten da und sucht zwischen den Böen den Frachter, den man eben noch auf dem AIS gesehen hat. Ein wolkenverhangener, bedeckter Himmel ist mir persönlich am liebsten.

Ruhig ist es auf keinen Fall. Im Frischwassertank schwappt das Wasser. Die hölzerne Innenverkleidung knarzt mit der Außenschale des Schiffs um die Wette. Ab und an schlagen Wellen gegen den Rumpf, das tut dumpfe Schläge. Wenn das Schiff zu hart in die Wellen einsetzt, kracht es wie ein starker Hammerschlag. Oft schlägt die Schiffsglocke laut an. Im Hintergrund hört man kontinuierlich das Wimmern des elektrischen Autopiloten. Bei Rollbewegungen klirren alle Gläser im Regal. Läuft der Motor, kommt auch noch das beständige Dröhnen des Diesels hinzu. Stunde für Stunde. Tag und Nacht.

Die Entspannung wird oft zu Langeweile. Bei einer kleinen Crew von zwei Personen ist man permanent müde, weil es nicht genug Schlaf gibt. Man muss aufmerksam sein, läuft aber immer wieder Gefahr, in den Schlaf zu fallen. Das ist schlecht, dann fährt man vielleicht andere Boote über den Haufen oder wird selbst zu Klump gefahren. Immer wieder muss man rundum schauen, ob sich nicht ein anderes Schiff verbirgt. Das ist fast nie der Fall, deswegen will der Körper wieder dösen, schlafen, ausruhen.

Alte Dünung, also bewegte See, ist oft noch tagelang im Wasser zu spüren. Dazu wird die See durch den aktuellen Wind bewegt. Die sanfte Schaukelbewegung wird zu einer harten Schüttelei. Jede Bewegung, die man im Schiff macht, führt zu blauen Flecken. Irgendwo ist immer eine Kante, an der man sich stoßen kann.

Jens ist benachteiligt. Wenn wir wenigstens drei oder vier Tage im Hafen waren, ist jeder Tag auf See wie der erste. Es fühlt sich für ihn an, als wäre es ein neuer Segeltörn. Deswegen lohnt es sich auch gar nicht, am ersten Seetag den großen Küchenzauber zu veranstalten. Mit dem Zeug werden doch die Fische gefüttert. Also gibt es am ersten Seetag Konserven, die dann nicht lange drin bleiben. Danach ist das vorbei, dann erträgt Jens die unangenehmsten Roll- und Stampfbewegungen und kann dabei Zwiebeln und Fleisch anbraten. Der erste Tag aber ist immer zum K*****.

Das Ziel kommt nicht näher. Bei einer Geschwindigkeit von fünf Knoten braucht man für eine Strecke von 250 Meilen etwa 50 Stunden. Dann sieht man auf dem Kartenplotter, wie jede Zehntelmeile heruntergezählt wird. Das kann an den Nerven sägen, besonders wenn man nicht auf die fünf Knoten kommt, wenn man bei Gegenwind aufkreuzen muss und sich effektiv nur mit zwei Knoten auf das Ziel zubewegt. Wenn die Tideströmung von den fünf gesegelten Knoten wieder zwei wegnimmt. Oder wenn alles das zusammen kommt, wenn man auf der Stelle segelt. Irgendwann kommt man trotzdem an.

Warum tun wir uns das an?

Weil es toll ist. Die Weite der See zu sehen, die Leere zu spüren. Die Belohnung ist dann zum Beispiel der tolle Anblick, wenn sich das Licht der Nachmittagssonne im Wasser spiegelt und rundherum nur der Horizont ist. Wenn ein Dutzend Delphine mit dem Schiff spielen. Dann leben wir den Augenblick. Dann stellt sich eine grenzenlose Entspannung und innere Ruhe ein.

Nacht

Es ist Mitternacht. Wir sind auf dem Weg von Douglas nach Dublin. Jens hat mich vor ein paar Minuten geweckt, ich habe die zweite Wache. Der Wind bläst mit vier bis fünf Windstärken und Sissi läuft unter Vollzeug, es sind also beide Segel in voller Größe gesetzt. Wie so oft beim Segeln kommt der Wind aus der Richtung, in die wir fahren wollen, also müssen wir aufkreuzen. Das verlängert den Weg, ist aber um viele Größenordnungen besser als Motorfahrt.

Douglas haben wir gegen Mittag verlassen, damit sind wir schon zwölf Stunden unterwegs und haben etwa die Hälfte der Strecke hinter uns. Der Mond ist vor kurzem aufgegangen und taucht die irische See in sein blasses Licht. Das Tauwerk knarzt, hin und wieder flattern die Segel. Sonst höre ich nur das Zischen des Rumpfs durch das dunkle Wasser. Die Wellen sind sehr angenehm und Sissi schaukelt leicht. Alleine sind wir nicht, in der Ferne kann ich Lichter von Frachtschiffen und Fischerbooten sehen. Trotzdem sind wir am einsamsten Ort der Welt – 30 Meilen von Irland und 30 Meilen von der Isle of Man entfernt, zwar mitten in Europa, doch unser Kosmos ist auf die 12 Meter Schiffslänge von Sissi begrenzt.

Ich schalte das Radio ein. Wir sind zu weit von der Küste entfernt, um einen Sender empfangen zu können. Aus unserer Musikbibliothek wähle ich ein paar Platten von Udo Lindenberg aus, die mir die Nacht verkürzen sollen. Zwischendurch schaue ich immer wieder nach anderen Schiffen, der Segelstellung und dem Wind. Wir machen eine gute Fahrt von knapp sechs Knoten über Grund, dabei hilft der Tidestrom ein wenig mit. Trotz der frühen Stunde fühle ich mich frisch und ausgeruht, dabei habe ich kaum geschlafen.

Meine Gedanken schweifen wild in der Weltgeschichte herum. Wie wird die Fahrt über die Biskaya sein, wie wird die Überquerung des Atlantik? Was erwartet uns in den nächsten Tagen und Wochen? Kurz darauf lande ich wieder in der Gegenwart, das AIS vermeldet einen Fischer auf Kollisionskurs. Kurz überlege ich, ihn über Funk anzusprechen, dann ändert er wieder seinen Kurs. Seit Schottland haben wir keinen Fisch mehr gegessen, ich bekomme Lust auf Fisch. Um die Angel auszuwerfen, sind wir viel zu schnell. Bei unserer Geschwindigkeit beißt kein Fisch mehr an.

Udo Lindenberg singt über den Horizont, hinter dem es weiter geht. Dort wollen wir hin! Schon um drei Uhr zeigt sich die erste Morgendämmerung, kurze Zeit später schläft der Wind ein. Ich rolle die Genua ein, ziehe das Großsegel dicht und wir treiben nur noch in den Wellen. Der Wind hält sich ausnahmsweise an die Wettervorhersage, es regnet nicht und das Mondlicht ist noch über dem Meer zu erahnen. Ich koche eine Kanne Kaffee, warte auf den vorhergesagten Winddreher. In der Flaute herumdümpeln geht aufs Gemüt. Die Fallen schlagen, Sissi macht unangenehme Bewegungen, es fühlt sich einfach nicht gut an. Ich will der Versuchung widerstehen, wie auf einem Chartertörn den Motor anzuwerfen. Das können wir auf dem weiten Atlantik auch nicht.

Nach einer Dreiviertelstunde setzt der Wind wieder ein, diesmal aus einer günstigen Richtung. Wir können direkt auf Dublin zuhalten. Ich rolle die Genua wieder aus, wir gewinnen an Geschwindigkeit. Das Kielwasser gluckert wieder, der Rumpf zischt durch die Wellen. Wir sind auf Halbwindkurs, schneller kann man mit einem Segelboot nicht unterwegs sein. Auf dem Kartenplotter kann ich sehen, wie die Meilen zum Ziel zusammen schnurren. Wir fahren inzwischen mit über sieben Knoten auf Dublin zu.

Gegen halb Acht am Morgen wecke ich Jens, inzwischen bin ich müde und möchte auch ein paar Stunden schlafen. Jens freut sich über den Kaffee und dass ich ihm genug davon übrig gelassen habe. Zwei Möwen lieferten sich in unserem Cockpit einen kleinen Kampf und haben auf unsere Solarzellen geschissen und gekotzt. Das sieht ein wenig eklig aus, wir müssen es unbedingt wegmachen. Leichter Regen hat eingesetzt. Wir haben nur noch ein paar Meilen bis zur Einfahrt in die Dublin Bay vor uns.

Ich liebe diese Nachtfahrten, sie haben einen ganz besonderen Zauber. Besonders dann, wenn der Motor nicht läuft und das Wetter so schön ist. Es gibt keine schönere Art der Fortbewegung, als auf einem Segelboot bei Nacht.

Raum und Zeit

Welchen Wochentag haben wir heute? Wie lange sind wir schon unterwegs? Ist die Wurst schon lange abgelaufen, die unten links im Kühlschrank liegt?

Fragen, die ich mir zu Hause nie stellen musste. Knapp einen Monat leben Jens und ich jetzt schon auf Sissi, es kommt mir manchmal vor, als wären wir gestern erst losgefahren. In anderen Momenten scheint es, als seien wir schon eine halbe Ewigkeit gemeinsam auf dem Wasser unterwegs. Auf längeren Seepassagen, wie etwa bei der Überquerung der Nordsee, kommt noch erschwerend der veränderte Tag- und Nachtrhythmus hinzu, denn wir schlafen bei jeder Gelegenheit, die sich bietet.

Datum und Uhrzeit werden nur dann wichtig, wenn der Tidekalender konsultiert werden muss. Die Tide hält sich unerbittlich an ihren Fahrplan und ist zuverlässiger als die Schweizer Eisenbahn. Verpassen wir die Tide, können wir erst 12 Stunden später fahren oder verbrennen eine Unmenge Diesel, damit wir gegen die Strömung motoren können.

Insgesamt ist es spannend, wie sich unsere Einstellung gegenüber den äußeren Gegebenheiten ändert. Wenn zu Hause die Bahn nicht fuhr, weil der Blitz in ein Stellwerk eingeschlagen hat, überlegte ich mir immer, wie ich so schnell wie möglich aus dem Schlamassel heraus komme. Heute liege ich oberhalb von Neptunes Staircase und kann nicht herunter, weil unten eine Eisenbahnbrücke vom Blitz getroffen wurde und erst repariert werden muss. Ob wir morgen herunter kommen, ist nicht sicher. Mir ist es aber egal, denn ich muss mir keinen Stress machen und es macht mir niemand Stress.

Jens meinte heute zu mir, dass er in diesem Urlaub noch kein Fish & Chips gegessen hätte. Die Bezeichnung “Urlaub” finde ich für unsere Tour unangemessen, aber wie soll man das sonst nennen? Egal wie wir es nennen, wir werden einfach dieser Tage mal ein weniger fettiges Restaurant aufsuchen und Fish & Chips essen. Wo ist das Probem? Wir müssen nicht nach ein paar Wochen wieder zu Hause sein und danach zur Arbeit gehen, sondern sind ganz woanders und schauen uns dort Land und Leute an.

Auf die Leute muss man zugehen. Die Schotten sprechen einen Deutschen nicht einfach so an, das kann schon daran liegen, dass sie möglicherweise mit sprachlichen Schwierigkeiten rechnen (die gibt es) oder woran auch immer. Wenn wir aber auf sie zu gehen, kommt meist eine freundliche, gute Begegnung dabei heraus. Dafür sind wir doch unterwegs, wir wollen Land und Leute kennenlernen. Überall.

Wie sehr mir Zeit und Raum entfleucht sind, habe ich heute im Coop in Corpach bemerkt. Ich war auf der Suche nach einem Mittel, das das Jucken der Midgee-Bisse lindert. Sie hatten zwar ein Anti-Midgee-Mittel, sie hatten jedoch kein Mittel gegen den Juckreiz. Also fragte ich nach einer Apotheke. Der Verkäufer erklärte mir den Weg und meinte im Nachgang, dass die aber am Sonntag geschlossen hat. Wie bitte? Natürlich! Heute ist Sonntag!

Wie wird das wohl weiter gehen? Im Logbuch unserer Reise stehen zwar für jeden Tag Datum und Uhrzeit, aber das schreibt sich leicht hin und ist dann schnell vergessen. Allein die Gewohnheit gebietet, dass um Mitternacht ein neuer Tag anfängt. Mitternacht ist aber oft eine Zeit, zu der wir unterwegs sind. Wir schlafen dafür am nächsten Tag. Wenn wir nach Mitternacht im Hafen einlaufen, ausschlafen, anschließend die Hafengebühren bezahlen und dann die Gegend erkunden, bekommen wir noch eine zweite Nacht gratis, denn wir zahlen nur für Kalendertage. Das ist lustig, dann werden aus einem Tag plötzlich zwei Tage. Es fühlt sich auf jeden Fall so an. In der zweiten Nacht schläft es sich genau so gut wie in der ersten.

Ich bin gespannt, was dieser Törn aus mir noch macht. Jens geht es ähnlich.