Rock’n’Roll

Es zahlt sich aus, wenn man sich bei der Abreise nach dem Wetterfenster richtet. Die letzten Tage hatten Eike und ich sehr angenehmes Segeln. Wir hätten mit mehr Wind kaum mehr Strecke zurücklegen können, da wir immer gegen die Strömung und die Wellen angesegelt sind. Die Höchstgeschwindigkeit wird dann weniger durch den Wind, als vielmehr durch die Wellen bestimmt. Bei unserem Abendessen schlagen plötzlich die Segel. Der Wind ist weg. Komplett.

Nach einigen Minuten ist der Wind wieder da, die Richtung hat sich geändert. Wir nutzen das, nehmen die Genua auf die andere Seite und ändern die Richtung ebenfalls. Nun fahren wir fast einen Ostkurs, das ist klasse. Im Geiste höre ich das Wetterfenster zuknallen, als eine Windbö einfällt und Sissi auf die Seite drückt. Statt drei bis vier Windstärken sind es plötzlich bis zu sechs Windstärken, die auf Sissi einfallen. Die Genua wird gerefft, im Großsegel ist sowieson schon ein Reff drin. Sissi läuft wieder geradeaus und mit bis zu fünf Knoten sogar richtig schnell. Immer wieder werden wir gebremst, wenn sich der Bug in eine Welle bohrt. Ich reffe so lange weiter, bis der Kompromiss zwischen Geschwindigkeit und Geschmeidigkeit beim Segeln wieder hergestellt ist.

Wenn wir auf dem Steuerbord-Bug sind, sind sowohl Eikes als auch meine Koje reichlich unkomfortabel. Ich falle immer unter ein Regal, Eike fällt einfach raus. Wenn es blöd kommt. Ich kann unter dem Regal alles mit Kissen ausstopfen, Eike kann das nicht. Er bekommt nicht viel Schlaf, während Sissi ein Rodeo auf den Wellen reitet.

Auf meiner Wache habe ich alle Hände voll zu tun. Das Problem ist nicht die Menge Wind an und für sich, das Problem ist die Böigkeit. Rings um uns herum sehen wir Gewitter. Blitze zucken vom Himmel. Ich kurbele das Radar an und will sehen, ob wir in schlimmes Wetter hineinfahren. Glücklicherweise sind die Gewitter entweder schon hinter uns oder weit genug weg. Auch ich kann nach dem Wachwechsel nicht richtig schlafen. An den Rock’n’Roll bin ich nicht mehr gewöhnt. Als ich endlich eingeschlafen bin weckt mich Eike, weil die Windrichtung sich wieder geändert hat und eine Wende fällig ist. Was würde ich für eine Stunde ununterbrochenen Schlaf geben.

Wir sind beide todmüde von der Nacht. Weder Eike noch ich konnten nennenswert Schlaf finden. Das sind die Freuden des Segelns, mir sind sie schon bekannt, für Eike sind sie neu. Der alte Spruch gilt immer noch: “Segeln ist die unkomfortableste Art, langsam zu reisen.” Irgendwie werden wir das schon schaukeln, wenn nicht übernimmt Sissi den Schaukeljob.

Wenige Minuten nach der Wende schläft der Wind ein. Wir treiben wieder mit eineinhalb Knoten westwärts. Auch ein Regentanz, Flüche und eine Kanne Kaffee können daran nichts ändern. Ich bin kein Profi, vielleicht können Profis ohne Wind segeln. Ich kann es nicht. Zähne knirschend kurbeln wir die eiserne Genua an. St. Kitts ist inzwischen in Motorreichweite. So können wir wenigstens direkten Kurs nehmen. Um uns herum nur Regenwolken, die Oberfläche des Ozeans kräuselt sich kein Bisschen. Nur alte Dünung lässt Sissi hin und her schaukeln, das Großsegel dient heute Vormittag lediglich der Stabilisierung der Fuhre. Auf dem Radar ist keine Besserung in Sicht, überall sind Regenzellen um uns herum. An den leuchtenden Farben können wir sehen, dass es sich um sehr viel Regen handelt.

5. Etmal: 85 nm
Entfernung nach St. Kitts: 150 nm

Brot und Spiele

Seit gestern ist unser Brot aufgegessen. Das ist ja mit einem Bäcker an Bord kein Problem, er kann jederzeit wieder ein neues Brot backen. Der Bäcker ist aber nur einigermaßen seefest. Richtig seekrank ist Eike nicht mehr geworden, doch manchmal wird es ihm immer noch ein wenig mulmig. Also muss der Skipper ran. Das hat den kleinen Vorteil, dass wir schneller zu einem Brot kommen. Eike macht einen Vorteig, den er lange gehen lässt, dann am nächsten Tag den richtigen Teig. Den lässt er auch noch lange gehen und heraus kommt das perfekte Brot. Mein Brot ist in drei bis vier Stunden fertig. Ich bin echt gespannt, wie es sich schlägt. Eike möchte von mir ein Zwiebelbrot. Mache ich doch gerne. Ich freue mich echt auf die professionelle Beurteilung des Brotes, das Jens und mich um die halbe Welt begleitet hat.

Wir spielen ein paar Runden Schach, bis Eike der Meinung ist, dass es reicht. Irgendwie müssen wir die heißen Stunden des Tages verbringen. Unser Wachrhythmus ist genau so wie mit Jens und mir. Nach dem Abendessen geht Eike gegen 20 Uhr ins Bett und versucht, in der Zeit bis drei Uhr morgens so viel Schlaf wie möglich zu bekommen. Dann ist Wachablösung und ich kann bis um zehn Uhr morgens schlafen. Anschließend schläft Eike meist zwei bis drei Stunden. Dann kommt unsere gemeinsame Zeit, die wir uns mit Spielen, Gesprächen und Filmen so angenehm wie möglich zu machen. Mein Brot landet im Ofen.

Im Cockpit fallen mir heute zwei Dinge auf. Einerseits, dass ich seglerisch manchmal wirklich ein Vollidiot bin. Während ich nach oben sehe und das Großsegel betrachte, muss ich mir mit der Hand auf die Stirn klatschen. Jetzt ist mir klar, warum das Segel nicht vernünftig im Wind steht. Ich habe vergesssen, beim Anschlagen des Segels die Segellatten in ihre Taschen zu stecken. Doof, aber für diese Überfahrt nicht mehr zu ändern. Andererseits fällt mir auf, dass wir Gefahr laufen, unseren Windgenerator zu verlieren. Der sorgt inzwischen für 65% der elektrischen Energie, er sorgt auch dafür, dass wir den Motor nicht mehr als Stromerzeuger laufen lassen müssen. Eine der beiden Schrauben fehlt, die andere ist schon fast herausgefallen. Der in Aruba gekaufte Schraubenkleber taugt wohl nichts. Ich grabe nach Ersatzschrauben, einem Schraubenschlüssel und der Tube mit dem Schraubenkleber aus Spanien. Der hat immer gehalten. Dann klettere ich auf den Geräteträger und mach
e den
Generator wieder richtig fest. Eike filmt mich dabei begeistert.

Das Brot ist fertig und auf Esstemperatur abgekühlt. Ich schneide die ersten Scheiben ab, das Brotmesser frisst sich knackend durch die Kruste. Es hört sich gut an, es fühlt sich gut an. Mir fällt auf, dass die Krume von Eikes Brot viel feiner und gleichmäßiger ist. Das noch warme Brot wird mit Butter bestrichen und mit ein wenig Salz bestreut. Die beste Art, ein frisches Zwiebelbrot zu genießen. Ich reiche Eike das Brot. Er beißt hinein, kaut und sagt erst einmal nichts. Noch nie war ich so gespannt, wie mein Brot beurteilt werden würde. Eike erklärt mir, dass seine Krume so viel feiner ist, weil er seinen Teig knetet und streichelt, ich meinen Teig hingegen schlage. Der Bordbackofen reißt es aber wieder raus. Er hat viel weniger hohe Temperatur, als der professionelle Ofen in der Backstube. Deswegen trocknet er Eikes Brot aus. Mein Teig enthält viel mehr Wasser, so dass die Trocknung des Brotes im Ofen ein ziemlich gutes Ergebnis bringt. Ich bin saumäßig stolz
, als
Eike mir erklärt, dass mein Brot besser schmecken würde. Wow!

Um ein Uhr morgens schaue ich auf den Bordcomputer und messe die Luftlinie nach Bonaire und nach St. Kitts. In beide Richtungen sind es genau 238 Seemeilen. Ich bereite eine kleine Playlist für die Wachablösung vor, um mit Eike das Bergfest zu feiern. Nach dem Wecken lasse ich ihm noch ein paar Minuten Zeit, dann starte ich die Wiedergabe – durchaus mit angemessener Lautstärke (nicht Leisestärke). Das kommt nicht gut an. Eike ist noch zu müde, um sich an Partymusik zu erfreuen. Nach einer angemessenen Wartezeit stoßen wir trotzdem mit einem Bier an, anschließend falle ich müde in meine Koje.

Am Morgen stelle ich fest, dass wir immer noch ein Plus bei der Strombilanz haben, obwohl diese Nacht zum ersten Mal alle Geräte und insbesondere beide Kühlschränke komplett durchgelaufen sind. Wir sind in jeder Hinsicht über den Berg. Der Wind ist gut, wir fahren zwar langsam aber auf einem guten Kurs. Noch ein paar Spiele auf dem Schachbrett und dann werden wir hoffentlich bald die über 1000 Meter hohen Gipfel von St. Kitts sehen.

4. Etmal: 84 nm
Entfernung nach St. Kitts: 198 nm

Fluch der Elektronik

Viele Menschen kommen inzwischen im Alltag nicht mehr ohne ihr Smartphone aus, Nutzungsdauer über mehrere Stunden am Tag ist ja eher die Regel als die Ausnahme. An Bord sind die Dinger weitestgehend wertlos, denn ein Smartphone ohne Internetverbindung, mit dem man auch nicht telefonieren kann, ist eigentlich einfach nur ein Akku, der geladen werden muss. Das Kleinvieh verbraucht bekanntermaßen nach Kühl- und Gefrierschrank am meisten Strom. Ich nutze es nur noch füŕ den Timer, der mich auf meiner Wache zuverlässig weckt, falls ich einmal eingeschlafen bin. Die meisten Segelboote sind komplett vernetzt und alle Systeme sind miteinander verbunden. So kann man Wegpunkte auf dem Navigationssystem setzen und automatisch ansteuern lassen. Das ist praktisch, so weit sind wir auf Sissi aber nicht. Wir setzen auf unser unermüdliches Crewmitglied Peter.

Für die Satellitenkommunikation haben wir von Anfang an ein Huawei Tablet genutzt. Ich erwähne den Namen des Herstellers nur, weil das wichtig ist. Wir waren soweit zufrieden, die Iridium-Go Software funktioniert darauf einwandfrei. Leider ist nach zwei Jahren in der Karibik der Akku aufgequollen. Eigentlich sollte man das Gerät reparieren lassen. Das habe ich auch vor, nur eben nicht hier und jetzt. Die ganze Elektronik und deren Reparatur sind in der Karibik unfassbar viel teurer als bei uns. Deswegen habe ich Jens gebeten, mir ein neues Tablet zu besorgen und Eike mitzugeben.

Die Bordelektronik von Sissi ist mehrfach unabhängig. Man kann auch sagen, sie besteht aus mehreren Systemen, die nicht miteinander verbunden sind. Den elektrischen Autopilot, seinen Kompass und das Radargerät habe ich mit Sissi zusammen erworben, sie werden alle über eine GPS-Antenne versorgt. Den Windmesser, das Log, das Echolot und das AIS wiederum habe ich eingebaut. Sie sind miteinander verbunden und versorgen die Instrumente im Cockpit mit Informationen. Auch sie werden alle über eine weitere GPS-Antenne versorgt. Die dritte Antenne ist im Funkgerät verbaut. Die vierte Antenne versorgt den Bordcomputer, der zusätzlich noch mit den Signalen der Bordinstrumente versorgt wird, aber nicht ins Netzwerk zurück sendet. Fehler im einen System schlagen jedenfalls nicht durch in ein anderes System.

Peter ist benannt nach seinem Konstrukteur. Peter ist unsere Windfahnensteuerung. Die läuft vollkommen mechanisch ohne Elektronik und fährt das Boot dem Wind hinterher. Das ist gut, denn es spart uns eine Menge Strom. Unser elektrischer Autopilot verbraucht mehr Strom als der Kühlschrank. Also würde eine Vernetzung für unsere Segelei gar nichts bringen, Peter lässt sich nicht vernetzen.

Eike bringt mir das neue Huawei Tablet aus Deutschland mit, welches mit mehr Speicher, mehr Prozessoren, einem besseren Bildschirm und vor allem mit einem intakten Akku ausgestattet ist. Es gibt eine App des Herstellers, die die Installation des alten Tablets auf das neue ziehen kann und die ich nutze. Es werden die paar Telefonbucheinträge kopiert und außerdem die Apps installiert, die auf dem alten Tablet drauf sind. Ich richte die Iridium-Software ein, lade die Seekarten herunter und lasse es wieder liegen. Kurz vor der Abfahrt in Aruba stellt sich heraus, dass auf dem neuen Gerät eine veraltete Softwareversion läuft, die keine Emails über Satellit versenden kann. Ich will die Software aktualisieren und dabei muss ich entdecken, dass das Tablet gar nicht auf den Google-Playstore zugreifen kann.

Daran hat Jens nicht gedacht, als er das Gerät am Black Friday bestellt hat. Daran habe ich nicht gedacht, als ein Storno noch möglich gewesen wäre. Aufgrund politischer Komplikationen zwischen den USA und China ist Huawei aus dem Playstore ausgesperrt. Die Firma hat zwar eine eigene Quelle für die Apps, doch die sind offenbar nicht immer aktuell – wenn sie überhaupt verfügbar sind. Und so wickle ich die Satellitenkommunikation über das alte Tablet ab und hoffe, dass der aufgeblähte Akku noch ein paar Tage durchhält.

Als ich in jener Nacht vom extra starken Regenguss überrascht wurde und später den Kurs wieder neu einstellen musste, war das GPS-Signal auf den Bordinstrumenten weg. Damit hatte ich im Cockpit keinen Kurs und keine Geschwindigkeit. Ich vermute, dass der starke Regen dafür gesorgt hat. Der Windmesser an der Mastspitze ist gerade demontiert. Ich musste mich am wenigen Wind orientieren und den Kurs wieder einstellen. Vielleicht sollte ich doch das Signal des Kompasses doch an die Instrumente durchreichen. Aber auch die Fahrt durch das Wasser kann ich derzeit nicht feststellen, da die Logge wahrscheinlich von kleinen Krebsen bewohnt wird und sich nicht dreht. Sissi fährt auch ohne.

Nur Peter ist vollkommen unbeirrt und steht 24 Stunden am Tag an unserem Ruder. Der Wind hat ein wenig aufgefrischt, unser Windgenerator macht jetzt genug Strom. Wir haben den Motor nicht mehr anwerfen müssen, um Strom zu erzeugen. Um Mitternacht lade ich neues Wetter herunter. Entweder müssen wir eine Wende fahren oder auf einen Winddreher hoffen, denn wir fahren im Moment genau nach Norden. Die frische Vorhersage sieht nicht schlecht aus. Als Eike mich um drei Uhr morgens ablöst, sind die Batterien genauso voll wie am Vortag. Ohne Motorstunden. Ich wache morgens um zehn Uhr wieder auf und freue mich riesig, als ich auf den Bordcomputer schaue. Unser Kurs ist genau Nordost, direkt nach St. Kitts. Hoffentlich bleibt uns diese Richtung noch lange erhalten. Peter hat den Winddreher bemerkt und ist ihn mitgefahren. Ohne Elektronik.

Am dritten Tag ist alles in Butter. Es geht uns prächtig. Digital detox ist ja heute die große Mode. Liebe Smartphone-Junkies, bucht euch einfach auf einem Segelboot eine Seepassage.

3. Etmal: 87 nm
Entfernung nach St. Kitts: 273 nm

Unsere voraussichtliche Ankunft unter Betrachtung der Wettervorhersage ist Samstag oder Sonntag, das kann sich aber noch ändern. Sicher scheint, dass der Wind am Freitag zu unseren Ungunsten drehen wird und wir die letzten Meilen ziemlich kämpfen werden müssen.