Paradox

Unsere abendliche Routine ändert sich nicht. Jens geht gegen 20 Uhr in seine Koje und ich vertreibe mir die Zeit bis um 3 Uhr in der Nacht. Man merkt schon, dass wir ein gutes Stück in Richtung Norden gekommen sind, denn inzwischen kann man wieder von einer Abenddämmerung sprechen. Die Tage sind auch schon merkbar länger geworden. Abgesehen von der Temperatur fühlt es sich an, als würde man aus dem Winter in den Sommer fahren. Bei der Temperatur ist es umgekehrt, die sinkt in der Nacht schon merkbar.

Deswegen trage ich nachts inzwischen eine lange Hose, ein Kleidungsstück, dass ich erst einmal aus den Tiefen meiner Schränke ausgraben musste, weil ich es seit Jahren nicht mehr gebraucht habe. Sissi gleitet ruhig durch die Nacht, ich lese im Schein der roten Cockpitbeleuchtung die Känguruchroniken von Marc-Uwe Kling. Das ist eigentlich nicht die Literatur, die ich sonst lese, es sind aber die einzigen von mir noch nicht gelesenen Bücher an Bord. Währenddessen backe ich ein Brot.

Ich versende die Mitternachtsposition. Wir haben gut 60 Meilen innerhalb der letzten 12 Stunden zurückgelegt, doch die Tendenz bei der Windstärke zeigt nach unten. Die Vorhersage verspricht uns für die Nacht ein paar Stunden praktisch ohne Wind. Von durchschnittlich sechs Knoten am Nachmittag ist unsere Geschwindigkeit auf vier Knoten gefallen. Ich liebe es, die ersten Scheiben eines frisch gebackenen Brotes zu essen, denn dann ist es noch richtig knusprig. Bei der Ablösung am frühen Morgen fahren wir nur noch drei Knoten, die Kruste des Brots hat auch schon merkbar nachgelassen.

Zunächst beginnt die Nacht ruhig. Später rolle ich in meiner Koje hin und her. Das ist nicht normal. Es macht Klong, Klong aus der Takelage. Klickklickklickklickklick. Jens arbeitet an der Winsch. Rumms, wieder ein Schlag. Ich krabbele aus der Koje, Jens und ich sind uns einig, dass die Genua eingerollt werden muss. Die Schläge sind nicht gut für das Segel und das Rigg. Ich versuche, noch etwas zu schlafen. Das Boot rollt unangenehm. Ich rolle auch. Jens kommt und will auch das Großsegel runter nehmen. Ich bin einverstanden.

Während unseres Frühstücks treiben wir mit 0,7 Knoten wenigstens in die richtige Richtung. Jetzt wissen wir auch genau, wie viel Strömung uns hier noch schiebt. Der Windgenerator dreht sich kein Bisschen. Die Nacht hatte gravierende Auswirkungen auf unseren Stromhaushalt. Sissi bzw. unsere Kühl- und Gefrierkombination hat sich den fehlenden Strom aus den Batterien geholt. Wind ist für uns in mehrfacher Hinsicht wichtig, nicht nur zum Vorankommen (*).

Nach dem Frühstück können wir die Segel wieder setzen. Der Windgenerator dreht sich für 0,1A, das reicht aber für uns zum Segeln. Jetzt schleichen wir mit zwei bis drei Knoten über das Wasser. Immerhin ist das Schiff wieder ruhig. Es fühlt sich paradox an, dass das Schiff bei viel Wind ruhiger im Wasser liegt als ohne oder bei wenig Wind.

6. Etmal: 83,5 nm
Position: 25°08‘N 59°03‘W

(*) Der angekündigte Beitrag zum Thema Solarzellen und ihre Produktivität verschiebt sich flautebedingt um mindestens einen Tag.

Der Tod kündigt sich an!

Wenn es hier richtig gut läuft, habe ich nicht viel zu erzählen. So ist es im Augenblick. Gestern ist nichts kaputt gegangen, wir mussten nichts reparieren. Wir sind gesund und Sissi schaukelt uns unserem Ziel entgegen. Also erzähle ich mal wieder etwas über Elektrizität.

Kurz vor meiner Abfahrt in Aruba ist die erste von drei Batterien verstorben, durch die Sissi mit Strom versorgt wird. Kurz nach meiner Ankunft in Guadeloupe ist die zweite Batterie zusammengebrochen. Die Batterien waren nicht einmal drei Jahre alt. Entgegen der ursprünglichen Planung habe ich sie aber über Monate mit dem Landstrom-Ladegerät gefoltert. Insbesondere in meinem ersten Jahr in Aruba kam ich nicht auf die Idee, das Boot trotz Landstrom über Batterie laufen zu lassen. Im zweiten Jahr war es dann wohl zu spät.

Gestern schrieb ich über das Logbuch und dass ich jeden Tag Stromerzeugung und Verbrauch dokumentiere. Es lohnt sich wirklich, die Aufzeichnungen auch mal über längere Sicht rückwirkend zu lesen. Bisher habe ich immer nur von Tag zu Tag geschaut. Jetzt habe ich mir die Mühe gemacht, alle Informationen in ein modernes Datenbanksystem (aka Excel) zu überführen und mit komplizierten Rechenformeln in verständliche Zahlen umzuwandeln.

Im Winterlager in Stavoren habe ich mühsam den Stromverbrauch von Sissi ermittelt. Dazu habe ich die Verbraucher einzeln eingeschaltet und protokolliert, wie viel sie aus den Batterien saugen. Ich kam auf einen theoretischen Gesamtverbrauch von 125 Ah pro Tag. In Portugal habe ich noch zwei Solarpaneele ergänzt, seit dem hat sich nur einmal etwas grundsätzlich an der Konfiguration geändert.

1. Jahr: Von Portugal bis Aruba war der Stromverbrauch von Sissi während der Fahrt immer bei ca. 125 Ah. Auf der Atlantiküberquerung lag er bei 129 Ah pro Tag, da waren wir allerdings zu dritt und hatten jede Menge kleine elektronische Spielzeuge zu laden. Die durchschnittliche Produktion entsprach in etwa dem Verbrauch.

2. Jahr: Auf den mehrtägigen Törns war der Stromverbrauch im Schnitt bei 165 Ah pro Tag. Es sind aber keine neuen Geräte an Bord gekommen, die diesen Strom verbrauchen hätten können. Durch die vielen Kurse am Wind ist uns der erhöhte Stromverbrauch nicht aufgefallen.

3. Jahr: Neu an Bord ist die Gefrierbox. Aufgrund der Batteriesituation war sie jedoch außer Betrieb, als ich mit Eike nach Guadeloupe gefahren bin. Der Stromverbrauch lag inzwischen trotzdem bei 180 Ah pro Tag. Aufgrund der vielen Kurse am Wind und des Flautentages mit Motornutzung ist es mir nicht aufgefallen. Jetzt auf dem Atlantik mit Gefrierbox liegen wir bei knapp 240 Ah pro Tag.

Fazit: Bei unverändertem Boot hat über die Zeit der Stromverbrauch mehr und mehr zugenommen. Der Strom wurde in den Batterien verheizt. Das werde ich mir für die Zukunft zu Herzen nehmen und regelmäßige Bilanzen erstellen. Die Zahlen sind ja da, ich muss sie nur auswerten. Der Batterietod kündigt sich von langer Hand an.

Vielleicht fällt mir ja ein Thema ein, über das ich morgen schreiben kann. Ansonsten mache ich einen kleinen Beitrag über die Versprechen der Hersteller von Solarpaneelen und die tatsächlichen Erträge auf hoher See.

Ich kann es immer noch nicht glauben, wie ruhig diese Überfahrt verläuft. Sitze ich unten im Salon, merke ich eigentlich nur durch das Knarzen des Mobiliars, dass Sissi auf See ist. Die Schaukelbewegungen sind so sanft. Dabei sind wir mit wenig Wind recht flott unterwegs. Das ist nichts, worüber ich mich beschweren wollen würde, das erleichtert den Alltag an Bord ungemein und macht die Fahrt sehr entspannend.

5. Etmal: 123 nm
Position: 24°12’N 60°08’W

Die Taube

Als ich am Morgen aufstehe, begrüßt mich Jens aus dem Cockpit. Wir haben einen blinden Passagier bekommen. Tatsächlich sitzt eine kleine, graue Taube auf dem Dach unseres Cockpits. Sie ist gegen 9 Uhr morgens in mehreren Versuchen gelandet und klammert sich mit zerzausten Federn an der Kante unserer Solarzellen fest. Jens kocht uns den Morgenkaffee und geht anschließend für ein Nickerchen in seine Koje. Ich vergesse die Taube, schreibe den gestrigen Blog fertig und mache den ganzen „Papierkram“.

Papierkram, etwa das Logbuch. Ich notiere die Stromproduktion des Tages und den Stromverbrauch. So kann ich über lange Sicht den Stromverbrauch des Boots optimieren. Natürlich notiere ich auch die Position des Schiffes und den Kurs, Luftdruck und alles, was man sonst üblicherweise so macht. Ich übertrage den Blog vom Computer auf das Handy von Jens und mache ihn versandfertig. Den Tracker aktualisiere ich auch noch. Das ist so etwa der Papierkram nach dem Frühstück. Mit dem Stromverbrauch sind wir gut dabei. Bisher waren die Batterien jeden Nachmittag wieder auf 100% vollgeladen.

Irgendwann ist Jens wieder wach und sieht als erstes nach der Taube. Sie ist noch da und sitzt an derselben Stelle. Wir überlegen, ob wir ihr irgendwie helfen können, es fällt uns aber nichts ein. Warum fliegt ein Vogel wie diese Taube 300 Meilen auf die offene See hinaus, um dann auf einem Segelboot zu landen? Tauben kenne ich als Orientierungskünstler. Brieftauben sind doch dafür bekannt, dass sie von überall wieder nach Hause finden. Das funktioniert womöglich nur über Land, Jens und ich haben keine Ahnung. Dafür kennen wir uns zu wenig mit Tauben aus.

In den heißen Stunden des Tages sind wir unter Deck. Hin und wieder steckt natürlich einer von uns schon seinen Kopf nach draußen. Irgendwann ist die Taube weg, nur zwei Haufen Taubenkacke erinnern noch an sie. Sie ist umgezogen, Jens entdeckt sie schon auf den hinteren Solarpaneelen. Später sitzt sie für Stunden auf einer Stange des Geräteträgers.

Mein Blick fällt auf den Batteriemonitor. Die Solarzellen laden nur mit 0,7A. Das ist praktisch nichts. Die Sonne scheint aus dem unbewölkten Himmel, da müssten mindestens 15A auf der Uhr stehen. Es könnte noch viel mehr sein, wenn die Paneele auf dem Cockpitdach gerade nicht im Schatten des Großsegels lägen. Mit dem Voltmeter ist die Ursache des Problems ziemlich schnell geklärt, die beiden achteren Paneele laden gar nicht. Die im Schatten auf dem Dach bringen wacker 0,7A. Gestern schrieb ich noch von der Abwesenheit von Katastrophen und über das Wetter. Jetzt also ist ein Laderegler hin.

Zum Glück haben wir drei Laderegler für zwei Gruppen Solarzellen. Also kann ich das irgendwie einigermaßen zurechtschlumpfen. Leider ist der leistungsfähigste der drei Regler zusammengebrochen, so dass ich die Solarkapazität reduzieren muss. Sandra von der Samai meinte noch zu mir, ich solle mir von Jens etwas mitbringen lassen. Ich habe gescherzt, dass er mir das mitbringen soll, was als nächstes kaputt geht. Es wäre ein Laderegler gewesen. Die Batterien sind noch fast voll, damit kommen wir ein paar Tage weit. Dann sind wir entweder in der Flaute und machen Strom mit dem Motor, oder wir sind in den Starkwind geraten und haben Windstrom im Überfluss.

Am späten Nachmittag sitzen Jens und ich im Cockpit und unterhalten uns über das Abendessen. Die Taube fliegt plötzlich auf. Sie macht mehrere Versuche, erneut auf der Sissi zu landen. Wir haben Angst, dass sie vom Rotor des Windgenerators gehäckselt werden könnte. Sie versucht es vergeblich auf der Saling. Sie versucht es erneut auf den Solarzellen. Irgendwann fliegt sie gen Süden davon.

4. Etmal: 107 nm
Position: 22°36’N 61°26’W