24 Stunden auf Adrenalin

Wir schreiben den 21. März 2020. Es ist früher Nachmittag. Wir bekommen eine Nachricht von der Chapo, dass sie sich quasi im Landeanflug auf Aruba befindet und irgendwann in der Nacht eintreffen wird. Klasse, denke ich mir, in der Nacht zum Sonntag wird die Einreise garantiert nicht leichter. Die Sonne geht langsam unter.

Abendstimmung in Oranjestad

Wir rechnen mit einer Ankunft irgendwann zwischen Mitternacht und drei Uhr in der Früh und schalten den Funk an. Nach ein paar Stunden können wir hören, wie die Küstenwache ein unbekanntes Segelboot anspricht. Eine Antwort können wir zunächst nicht vernehmen, aber das unbekannte Segelboot kann nur die Chapo sein. Der Puls geht nach oben. Adrenalin macht sich breit.

Am 22. März um 0:30 Uhr klingelt mein Telefon. Charly ist am anderen Ende von der Leitung. Sie sind vor der Hafeneinfahrt von Barcadera, dem Einklarierungshafen, doch zwischen ihnen und dem Steg ist ein Boot der Grenzpolizei. Ich versuche sofort, den Kontakt zur Honorarkonsulin zu aktivieren, die bei den Behörden dafür gesorgt hat, dass die Chapo einreisen kann. Nur leider weiß die Nachtschicht auf dem Polizeiboot nichts davon. Während ich noch versuche zu telefonieren, wird die Chapo der arubanischen Territorialgewässer verwiesen. Sie sollen am nächsten Morgen noch einmal wieder kommen, wenn Zoll und Einwanderungsbehörde geöffnet haben. Ich gehe wieder ins Bett, an einen guten Schlaf ist nicht zu denken. Unsere Freunde sind seit dem 27. Februar auf dem Atlantik, sie müssen jetzt langsam mal in einen Hafen.

Geweckt werde ich am Morgen um halb Neun. Die Honorarkonsulin, Frau Rodriguez, ruft zurück. Sie entschuldigt sich dafür, dass sie schon im Bett war. Im Hintergrund ist ein plärrendes Kind zu hören.

Frau Rodriguez versorgt mich mit Telefonnummern, die die Chapo an die Grenzpolizei weitergeben kann. In den nächsten zwei Stunden klärt sich langsam, dass dieses Boot die Grenze übertreten und einreisen darf. Wir sehen der Küstenwache zu, wie ein Schnellboot zu Wasser gelassen wird. Es verschwindet mit hoher Geschwindigkeit in Richtung der letzten und bekannten Position der Chapo.

Frau Rodriguez möchte von mir die Ausweisnummern der Ankommenden haben. Jutta schickt sie mir per SMS. Das reicht aber nicht, jetzt sollen noch Fotos der Ausweise dazu. Das können die Chapos nicht liefern, das Datenvolumen reicht nicht aus. Deutsche Handyverträge sind ein Graus. Irgendwie muss es ohne gehen, Frau Rodriguez versteht das und kümmert sich.

Mein Telefon klingelt wieder, am anderen Ende der Leitung ist der Secretary of Foreign Affairs von Aruba. Ich darf noch einmal die ganze Geschichte vom Start auf den Kapverden bis zur Ankunft auf Aruba erzählen. Zwei dänische Anhalter haben wohl außerdem über Kopenhagen die hiesige Diplomatie verrückt gemacht, konnten aber nicht viel bewirken. Ich werde ausgefragt über die Pläne. Die Dänen haben noch für den 22. März einen Rückflug nach Amsterdam gebucht. Die Deutschen wollen in den Hafen und dort die Hurrikansaison verbringen. So weit, so klar.

Es ist 12:30 Uhr. Ich bekomme von der Chapo die Nachricht, dass sie nun von der Küstenwache in den Einklarierungshafen Barcadera eskortiert werden. Wir sind erleichtert. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern.

Die Prozedur beim Einklarieren ist anders als bei uns. Diesmal wird bei den Einreisenden noch Fieber gemessen. Ansonsten dauert es auch nur eine gute Stunde, dann werden wir informiert, dass alles in Ordnung ist und dass sie nun nach Oranjestad rüberkommen. Die Dänen sind inzwischen mit dem Polizeitaxi in Richtung Flughafen unterwegs.

Chapo in der Einfahrt von Oranjestad

Jens und ich gehen an den Strand. Wir nehmen die Kameras mit und wollen die Anfahrt der Chapo fotografieren. Die Sonne lacht auf das Wasser, das in allen möglichen Blautönen leuchtet. Es ist alles wie gemalt.

Die Chapo fährt in den Hafen von Oranjestad ein

Wir feiern die Einfahrt in den Hafen um etwa 14 Uhr mit Rufen, Winken, Singen, Hüpfen und Tanzen. Die Stimmung ist ausgelassen. Charly touchiert beim Einparken erst einmal einen Holzpoller, der in Splittern wegfliegt. Das ist halt so, wenn man wochenlang nicht mehr am Steg festgemacht hat. Im zweiten Versuch können wir die Chapo dann an die Tankstelle lotsen und festmachen.

Ausgelassene Stimmung – it’s so wonderful!

Leider dürfen die drei nicht von Bord, sie haben noch Quarantäne. Wir hoffen, dass die bald aufgehoben wird. Wir dürfen auch nicht an Bord.

Also sitzen Jens und ich am Steg. Wir haben frisches Bier aus dem Kühlschrank der Sissi mitgebracht. Wir feiern die Ankunft. Hoffentlich wird die Quarantäne bald aufgehoben. Immerhin waren die drei schon seit Ende Februar unter sich.

Mit jedem Bier fällt Anspannung von Jutta, Ute und Charly ab. Wir hören laute Musik. Es kommen immer wieder Sicherheitsleute vorbei, denen das neue Segelboot im Hafen verdächtig vorkommt. Wir können das klären. Alles ist gut. Wir geben noch eine große Dose Gulasch an Bord, damit sie endlich mal wieder eine frisch gekochte Mahlzeit zu sich nehmen können.

Ausgelassene Stimmung

Nach dem Abendessen ist die Feier dann schnell vorbei. Alle drei Chapos sind müde. Sie haben sich ihren Schlaf jedenfalls verdient. Auch wir gehen früh ins Bett. Das Adrenalin ist nun verbraucht. Wir sind müde.

An dieser Stelle noch einmal den allerherzlichsten Dank an Frau Rodriguez. Sie hat sich richtig ins Zeug gelegt und mehr für die Chapo getan, als man eigentlich erwarten könnte.

Abgeschiedenheit

Ich telefoniere in den letzten Tagen sehr oft mit unserer Schwester. Sie ist im Home Office, wie so viele andere Menschen in diesen Tagen auch. Die Abgeschiedenheit macht ihr zu schaffen. Mich erreichen Emails von Freunden zum gleichen Thema. Auch in der Presse gibt es viele Lebenshilfe-Artikel zum Thema „Leben in der Isolation“.

Als Herdentier macht vielen Menschen die Isolation zu Hause zu schaffen. Oft fahren allerdings die gleichen Menschen auf eine Hallig in den Urlaub oder buchen eine einsame Hütte in Schweden. Sie suchen die Abgeschiedenheit und meiden für Wochen den Kontakt zu anderen Menschen.

Geparktes Auto. Wir laufen da auf dem Weg zum Supermarkt regelmäßig dran vorbei.

Wir kennen das sehr gut. Auf dem Segelboot befinden wir uns tagelang oder wochenlang in der perfekten Isolation. Wir haben dann die härteste Ausgangssperre, die man sich vorstellen kann. Wer das Boot unterwegs verlässt, ist mit größter Sicherheit innerhalb kurzer Zeit tot. Darüber wacht der Atlantik. Während der Isolation sehen wir nur uns, haben wir nur uns gegenseitig als Gesprächspartner. Wir sitzen in unserem kleinen Boot aufeinander.

Soziale Isolation

„Hamsterkäufe“ sind für uns allerdings vollkommen normal. Wir kaufen nicht ein, wir bunkern. Wir laden Unmengen von Lebensmitteln auf unsere Sissi, denn wir können nicht einmal zum Supermarkt an der Ecke gehen. So streng ist unsere Ausgangssperre.

Sinnvolle Tätigkeiten in der Freizeit

Wir teilen unsere Zeit ein in Arbeitszeit und Freizeit. Während der Arbeitszeit wird Sissi geputzt, gewienert und gepflegt. Es wird repariert, was kaputt gegangen ist. Es wird gekocht und gespült. Und es wird natürlich darauf geachtet, dass der Kurs stimmt und dass wir nicht gegen ein anderes Schiff fahren. In der Freizeit wird entspannt, gelesen oder ein Film gesehen. Wir warten nicht darauf, dass etwas passiert. Wir sorgen dafür, dass etwas passiert. Im Internet surfen ist über das Satellitentelefon nur sehr begrenzt möglich, telefonieren können wir auch nicht so richtig.

Am Ende des Tages

Wir führen unser Leben so, dass wir das Gefühl haben, den Tag sinnvoll verbracht zu haben. Am Ende jeden Tages kommen dann der Sonnenuntergang und das Abendessen als kulinarischer Höhepunkt. Das Leben ist schön auf See. Das Leben ist einsam auf See.

Im sicheren Hafen

Irgendwann und meist viel später als veranschlagt kommen wir in einen sicheren Hafen und die Ausgangssperre ist aufgehoben. Das feiern wir, dann sind wir glücklich. Das ist immer so. Das ist gut so.


Wie jeder Vergleich hinkt auch dieser. Der Urlaub auf der Hallig hat ein festgelegtes Ende. Am Ende des größten Ozeans befindet sich wieder Land, wir können uns recht gut ausrechnen, wann wir dort ankommen. Das ist der Unterschied.

Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass wir alle dafür sorgen müssen, dass uns der Himmel nicht auf den Kopf fällt. Dass wir alle dafür sorgen müssen, dass der bzw. die anderen sicher sind. Ich kümmere mich um Jens, Jens kümmert sich um mich. Wir vertrauen uns gegenseitig blind. Wir achten aufeinander. Wir helfen uns gegenseitig.

Steuere deine Wohnung durch die Untiefen in der Coronasee. Achte darauf, keinen Schiffbruch zu erleiden. Führe deine Crew. Du wirst sehen, am Ende des Meeres ist wieder Land. Es gibt immer Land auf der anderen Seite des Ozeans.

Anne Frank auf Aruba

Ich übersetze das mal nicht, ihr habt alle Zeit genug, euch das selbst aus dem Niederländischen zu übersetzen. Im Internet gibt es Mittel und Wege.

Hilfsmittel: Wir schauen nur einmal am Tag, wie weit wir gekommen sind. Wir könnten öfter schauen, aber das wäre frustrierend, denn bei mehreren tausend Meilen Reststrecke sind die lediglich hundert Meilen, die wir am Tag zurück legen, immer nur kleine Schritte. Schau‘ nicht so oft im Internet, was um dich herum passiert. So schnell dreht sich der Planet auch nicht.

Mach‘ es Dir bequem. Halte Dich vom Fernseher fern. Schau‘ lieber den einen oder anderen Film auf Youtube, das ist eine nachrichtenfreie Zone. Lies‘ ein Buch. Lerne Brot backen – das ist toll! Betrachte den Begriff „Coronaferien“ als Ferien von der Corona-Berichterstattung. Das hilft. Sicher.

Auf hoher See

Diät

Dieser Tage fällt es einem nicht leicht, einen klaren Kopf zu behalten. Wir sitzen die meiste Zeit auf unserem Boot herum, hängen am Strand ab oder spazieren durch die praktisch menschenleere Innenstadt. Welche Internetseiten wir auch aufmachen, sie kennen alle nur das eine Thema. Das Thema, das ich in diesem Beitrag mit genau keinem Wort streifen möchte. Ich bin nämlich auf Diät – Nachrichtendiät.

Die Idee dazu hatte ich gestern Nachmittag, als ich eine Email von meinem ehemaligen Arbeitskollegen Uli bekam. Eine Diät ist genau richtig. Zu einer Diät braucht man natürlich das richtige Essen. Ich mache einen Spaziergang zum Metzger und kaufe uns ein Stück von einer Kuh.

Dann kommt der Fleischwolf zum Einsatz, dieses wunderbare Stück mechanischer Technik. Bei 32°C im Schatten möchte ich Hackfleisch nicht einmal die 750 Meter von der Metzgerei bis zum Sissikühlschrank tragen, deswegen lasse ich es lieber im Laden. Wir haben einen Fleischwolf, also wolfen wir selbst. Ich verwandle das Kuhstück in Hackfleisch. Von diesem Vorgang gibt es keine Bilder, denn mit den Kuhfingern fasse ich die Kamera nicht an. Beim nächsten Mal lasse ich Jens ein Bild machen.

Bolognese

Ich schneide einen kleinen Hügel voll Zwiebeln und eine ordentliche Portion Knoblauch. Es kommt nicht genau auf die Menge an, es kommt nur darauf an, dass es eine große Menge ist – nach Gefühl, Erfahrung und dem eigenen Appetit.

Dann brate ich das Hackfleisch an, packe Zwiebeln und Knoblauch dazu und zuletzt eine große Packung passierter Tomaten. Ein paar Finger voll scharfer, getrockneter Chilis von den Kapverden sorgen für eine gesunde Schärfe, Salz, Pfeffer, Oregano und etwas Zucker für einen leckeren Geschmack. Das alles darf eine Weile auf kleiner Flamme vor sich hin köcheln.

Käse mit viel Geschmack

Die Zeit nutze ich, um einen großen Block Käse aus Frankreich zu reiben. Das kommt mir etwas wenig Käse vor, also grabe ich aus dem Kühlschrank noch einen zweiten Käseblock aus und reibe ihn ebenfalls. Jetzt scheinen die Mengenverhältnisse zwischen Bolognesesauce und geriebenem Käse zu stimmen. Also gehe ich weiter zum nächsten Schritt. Ich heize den Ofen an.

Lasagne vor dem Backen

Hackfleisch, Teigplatten und Käse werden jetzt von mir sorgsam in die Lasagneform geschichtet. Damit am Ende alles in die Form passt, muss ich immer mal wieder kräftig darauf drücken. Zu guter Letzt kann ich jedoch alle Zutaten in die Form pressen und muss diese nur noch in den vorgeheizten Ofen schieben.

Nun habe ich Zeit. Viel Zeit. Es dauert 20 Minuten, bis die Teigplatten durchgekocht sind. Ich kann mir also ein Video anschauen. Am besten sind Tiervideos, denn es gibt nichts, was entspannender ist als Tiervideos, wenn man auf eine Lasagne wartet, die von Minute zu Minute ihren Duft intensiver im Salon verteilt.

Dann ist das Essen fertig. Es gelingt mir diesmal, die Form aus dem Ofen zu nehmen, ohne mir dabei irgendwelche Brandverletzungen zuzufügen. Das ist selten. Ich freue mich. Der Lasagneduft im Salon wird unbeschreiblich stark.

Lasagne frisch aus dem Ofen

Jens kratzt mit der Gabel über den Salontisch und meckert mich an, weil ich mit der Kamera hantiere, anstatt die Pasta einfach auf den Tisch zu schleudern. Es geht ihm zu langsam. Er springt mir fast auf die Füße. Ich zerteile die frisch gebackene Speise in portionsgerechte Stücke. Denke ich. Jens denkt, ich möchte ihn auf Diät setzen. Die Stücke sind ihm viel zu klein.

Viel zu kleine Portion Lasagne

Er meckert immer noch, bis der Teller endlich vor ihm steht. Dann inhaliert er den Duft, schimpft über die Temperatur der Mahlzeit und beginnt mit der Nahrungsaufnahme. Das geht dann plötzlich sehr schnell. Jens hat seine erste Portion schon genossen, als ich meinen Teller noch nicht einmal zur Hälfte leer gegessen habe. Er nimmt sich noch eine Portion. Und noch eine Portion. Jens ist ein Pastafari!

Genuss pur. Lasagne wird langsam gegessen.

Nach dem Essen wird es dann noch Zeit für ein wenig abendliche Unterhaltung. Die Entscheidung für ein Konzert fällt uns leicht, die Kultur führt auf einem Segelboot leider immer wieder ein Nischendasein.

Der Lasagneklumpen in meinem Bauch will und will sich nicht auflösen, Jens spricht nach einer Stunde schon wieder von einem „Hüngerchen“. Wer soll nur das ganze schmutzige Geschirr noch abwaschen? Egal, zuerst kommt der Kulturgenuss.

Den einen oder anderen Diättag werden wir in Zukunft wohl machen. Ich empfehle dir auch gelegentliche Diät. So lebt es sich angenehmer und entspannter. Und nach dem Konzert gehst du am besten gleich ins Bett und daddelst nicht mehr auf dem Smartphone herum. Sonst war die ganze Diät sinnlos.