Die Taube

Als ich am Morgen aufstehe, begrüßt mich Jens aus dem Cockpit. Wir haben einen blinden Passagier bekommen. Tatsächlich sitzt eine kleine, graue Taube auf dem Dach unseres Cockpits. Sie ist gegen 9 Uhr morgens in mehreren Versuchen gelandet und klammert sich mit zerzausten Federn an der Kante unserer Solarzellen fest. Jens kocht uns den Morgenkaffee und geht anschließend für ein Nickerchen in seine Koje. Ich vergesse die Taube, schreibe den gestrigen Blog fertig und mache den ganzen “Papierkram”.

Papierkram, etwa das Logbuch. Ich notiere die Stromproduktion des Tages und den Stromverbrauch. So kann ich über lange Sicht den Stromverbrauch des Boots optimieren. Natürlich notiere ich auch die Position des Schiffes und den Kurs, Luftdruck und alles, was man sonst üblicherweise so macht. Ich übertrage den Blog vom Computer auf das Handy von Jens und mache ihn versandfertig. Den Tracker aktualisiere ich auch noch. Das ist so etwa der Papierkram nach dem Frühstück. Mit dem Stromverbrauch sind wir gut dabei. Bisher waren die Batterien jeden Nachmittag wieder auf 100% vollgeladen.

Irgendwann ist Jens wieder wach und sieht als erstes nach der Taube. Sie ist noch da und sitzt an derselben Stelle. Wir überlegen, ob wir ihr irgendwie helfen können, es fällt uns aber nichts ein. Warum fliegt ein Vogel wie diese Taube 300 Meilen auf die offene See hinaus, um dann auf einem Segelboot zu landen? Tauben kenne ich als Orientierungskünstler. Brieftauben sind doch dafür bekannt, dass sie von überall wieder nach Hause finden. Das funktioniert womöglich nur über Land, Jens und ich haben keine Ahnung. Dafür kennen wir uns zu wenig mit Tauben aus.

In den heißen Stunden des Tages sind wir unter Deck. Hin und wieder steckt natürlich einer von uns schon seinen Kopf nach draußen. Irgendwann ist die Taube weg, nur zwei Haufen Taubenkacke erinnern noch an sie. Sie ist umgezogen, Jens entdeckt sie schon auf den hinteren Solarpaneelen. Später sitzt sie für Stunden auf einer Stange des Geräteträgers.

Mein Blick fällt auf den Batteriemonitor. Die Solarzellen laden nur mit 0,7A. Das ist praktisch nichts. Die Sonne scheint aus dem unbewölkten Himmel, da müssten mindestens 15A auf der Uhr stehen. Es könnte noch viel mehr sein, wenn die Paneele auf dem Cockpitdach gerade nicht im Schatten des Großsegels lägen. Mit dem Voltmeter ist die Ursache des Problems ziemlich schnell geklärt, die beiden achteren Paneele laden gar nicht. Die im Schatten auf dem Dach bringen wacker 0,7A. Gestern schrieb ich noch von der Abwesenheit von Katastrophen und über das Wetter. Jetzt also ist ein Laderegler hin.

Zum Glück haben wir drei Laderegler für zwei Gruppen Solarzellen. Also kann ich das irgendwie einigermaßen zurechtschlumpfen. Leider ist der leistungsfähigste der drei Regler zusammengebrochen, so dass ich die Solarkapazität reduzieren muss. Sandra von der Samai meinte noch zu mir, ich solle mir von Jens etwas mitbringen lassen. Ich habe gescherzt, dass er mir das mitbringen soll, was als nächstes kaputt geht. Es wäre ein Laderegler gewesen. Die Batterien sind noch fast voll, damit kommen wir ein paar Tage weit. Dann sind wir entweder in der Flaute und machen Strom mit dem Motor, oder wir sind in den Starkwind geraten und haben Windstrom im Überfluss.

Am späten Nachmittag sitzen Jens und ich im Cockpit und unterhalten uns über das Abendessen. Die Taube fliegt plötzlich auf. Sie macht mehrere Versuche, erneut auf der Sissi zu landen. Wir haben Angst, dass sie vom Rotor des Windgenerators gehäckselt werden könnte. Sie versucht es vergeblich auf der Saling. Sie versucht es erneut auf den Solarzellen. Irgendwann fliegt sie gen Süden davon.

4. Etmal: 107 nm
Position: 22°36’N 61°26’W

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