Irgendwie schlafe ich schlecht, ich wache früh am Morgen auf. Es ist dunkel. Sissi macht merkwürdige Geräusche. Doch die Schiffsbewegungen sind harmlos, ich habe hier in Whitehills schon viel schlimmeren Schwell erlebt. Ich drehe mich im Bett herum und schlafe wieder ein. Irgendwie finde ich nicht wieder in den Schlaf. Kaum bin ich wieder eingeschlafen, habe ich merkwürdige Träume und finde mich beim alsbaldigen Aufwachen am Leebrett wieder, das mich auf See daran hindert, wild durch die ganze Achterkoje zu kugeln. Es fühlt sich alles komisch an. Draußen ist es noch dunkel, doch der Morgen dämmert schon. Ich drehe mich wieder herum, versuche den Schlaf wieder zu finden. Irgendwie fühlt es sich an wie beim Segeln auf See, aber das Schiff bewegt sich nicht. Das Schiff bewegt sich gar nicht.
Es ist sechs Uhr morgens, viel zu früh. Der Blick aus dem Niedergang weckt mich endgültig auf. Sissi hat ordentlich Schlagseite. Sie steht mit ihrem Kiel auf dem Boden des Hafenbeckens. Gestern Abend bei Niedrigwasser zeigte das Echolot noch 1,70 Meter Wassertiefe an. Das ist bei 1,70 Metern Tiefgang etwas knapp, doch Sissi ist weit davon entfernt, voll beladen zu sein. Das reicht locker. Heute ist das offenkundig anders.
Ich ziehe mich an und steige die steile Rampe hoch auf die Kaimauer. Es ist offenkundig, alle anderen Boote haben noch genug Wasser unter dem Kiel. Seit ich die Karibik verlassen habe, ist Sissi ordentlich gewachsen. Mit einem 12-Meter-Boot ist man in der Karibik immer der Kleinste. Das kürzeste Boot, der kürzeste Mast, der geringste Tiefgang. In Schottland wurde ich schon mehrfach darauf angesprochen, dass mein Boot doch ziemlich groß ist für eine Person. Es ist nicht zu groß für eine Person, es ist zu groß für so manchen Hafen.
So wenig Wasser habe ich noch nicht in der Hafeneinfahrt gesehen. Mir fällt es wie Schuppen aus den Haaren, es ist Vollmond. Der Mond ist nicht nur verantwortlich für die Gezeiten, der beeinflusst sie auch kurzfristig. Wir haben Vollmond. Das bedeutet Springzeit. Das bedeutet, dass das Hochwasser höher ausfällt als normal. Den Begriff „Springflut“ hat wahrscheinlich jeder schon einmal gehört. Dazu gehört im Gegenzug aber auch, dass das Niedrigwasser niedriger ist als normal. Der Tiefenmesser ist bei 1,40 Metern stehen geblieben. Gestern waren es noch 1,70 Meter!
Ich studiere den Tidekalender. Zwischen dem gestrigen Niedrigwasser und dem heutigen sind immerhin 30 Zentimeter Unterschied. In Dover. Ich schaue gar nicht mehr nach, welche Bedeutung es für Whitehills hat, denn ich kann es ja mit eigenen Augen sehen. An Schlaf ist jedenfalls nicht mehr zu denken. Der Pegel soll noch eine halbe Stunde lang fallen. Sissi zerquetscht die armen Fender wieder einmal.
Den heutigen Morgenkaffee genieße ich nicht mit Schlagsahne, sondern mit Schlagseite. Ich sitze im Cockpit und betrachte das Echolot. Dann schelte ich mich innerlich, die angezeigte Wassertiefe wird nicht weiter fallen. Wir sitzen schon auf dem Grund. Die Nachbarn von der Lycka stehen auf und haben mehr oder minder aufmunternde Sprüche für mich in meiner Situation.
Derweil fährt einer der Fischer aus dem Hafen. Er wünscht mir freundlich einen guten Morgen. Kein Wort über meine Situation, der Mann ist ein Vollprofi. Und er hat keinen nennenswerten Tiefgang. Nach dem Kaffee lege ich mich noch einmal ins Bett. Schlafen kann ich zwar nicht, doch was soll ich sonst tun. Eine Stunde später beginnt das Wasser langsam wieder zu steigen. Sissi quittiert es mit Knarzgeräuschen. Als der Tiefenmesser 1,60 Meter anzeigt, beginnt sie wieder zu schwimmen. Ich wollte aus Whitehills ausfahren, jetzt habe ich einen handfesten Grund. Das nächste Niedrigwasser wird noch einmal 10 Zentimeter niedriger ausfallen.
Als das Echolot wieder 2 Meter Wassertiefe anzeigt, mache ich Sissi fertig zum Ablegen. Lycka fährt schon heraus. Die hat aber auch 30 Zentimeter weniger Tiefgang. In der Hafeneinfahrt liegen noch ein paar Brocken, die ich nicht rammen möchte. Bernie kommt zu mir und bietet seine Hilfe beim Ablegen an. Die nehme ich natürlich gerne. Ich verabschiede mich und verlasse den Hafen. Nur mit Mühe kann ich Sissi in diesem engen Becken wenden. Das Schiff ist wirklich gewachsen seit der Karibik.
Als ich die Segelbootfallen hinter mir habe, ziehe ich probehalber die Genua raus. Der wenige Wind bringt mich nicht einmal auf zwei Knoten. Ich ziehe mir noch eine Wettervorhersage und rolle die Genua wieder ein. Der wenige Wind wird noch weniger werden. Ein weiterer Motortag liegt vor mir, doch es sind zum Glück nur 35 Meilen bis Peterhead. Ich kann sehen, dass die vor mir fahrende Lycka ihre Segel auch wieder weggenommen hat. Die See hat sich einigermaßen beruhigt, so angenehm war die Motorfahrt durch den Moray Firth noch nie für mich.
Jetzt kann ich von der Springzeit profitieren. Heute werde ich den ganzen Tag den Tidestrom auf meiner Seite haben. Der ist in der Springzeit stärker als normal. Der Mercedes brummt mit Umdrehungen für gut 4 Knoten, tatsächlich fahre ich aber mit 5,5 Knoten. Alles hat eine gute und eine schlechte Seite. Der Hafen von Peterhead jedenfalls ist tief genug, da brauche ich mir keine Sorgen zu machen. Auch das Anlegemanöver ist ohne Wind viel leichter.
Mit ordentlicher Geschwindigkeit nähere ich mich Fraserburgh. Der dortige Hafen ist nur für Notfälle von Segelbooten anzulaufen, es ist ein Industriehafen ohne Schwimmstege oder Sanitäranlagen – wie Macduff. Aber ich will hier auch gar nicht hinein. Eigentlich will ich mich um mein Mittagessen kümmern, später dann das Spiel unserer Eintracht gegen Wolfsburg im Radio hören und zuletzt gemütlich in die Marina fahren. Die Segelbootfallen und Fischerboote machen mir einen Strich durch die Rechnung. Immer wieder tauchen die Bojen von Hummerfallen vor mir auf, ich muss sie umfahren. Außerdem sind sowohl professionelle Fischerboote als auch Freizeit-Angelboote zuhauf unterwegs. Die sind alle nicht auf dem AIS und wollen mit den Augen entdeckt werden.
Des weiteren beginnt ein Bereich mit blödem Schwell. Ich folge im Prinzip der Kurslinie von Lycka. Das kleine Boot ist von einem älteren Ehepaar gesteuert. Sie mögen keine großen Wellen und ich blöder Idiot glaube, dass sie nur so dicht an der Küste fahren, weil die Bedingungen heute so hervorragend sind. Bei meinen letzten Passagen bin ich viel weiter draußen gewesen und wurde trotzdem ziemlich durchgeschüttelt.
Die Wellen sehen nicht beeindruckend aus, doch sie kommen aus allen Richtungen und schütteln mich durch. Das Problem mit den Hummerkörben besteht weiterhin. Nur die Freizeit-Angelboote sind hier nicht mehr unterwegs. Ich fahre wieder etwas weiter draußen, halte mich mehr oder minder an die 30 Meter Tiefenlinie und schalte den Radiostream an. Noch steht es 0:0. Ein paar Schokoriegel ersetzen manchmal eine vollständige Mahlzeit. Dazu ein paar belegte Brote, irgendwas ist immer zu finden. Ich traue mich nicht, den Platz im Cockpit für mehr als ein paar Sekunden zu verlassen. Ein Torwartfehler sorgt für das 0:1. Über Funk muss ich mir die Erlaubnis holen, in Peterhead einzulaufen. Ich habe Glück, es läuft kein Frachter aus. Ich darf sofort in die Marina fahren. Dort finde ich schon die Freyja und die Lycka. Die wollten doch eigentlich schon viel weiter sein. Deren Hilfe beim Anlegen ist mir heute hochwillkommen, denn ich vergeige das Anlegemanöver komplett.
Ich gehe zum Kühlschrank, um mir das Anlegegetränk zu holen. Dabei entdecke ich, dass die Spaghetti aus ihrer Tüte gehüpft sind und ein Mikadospiel aufgebaut haben. So sei es. Ich schwätze mit der Lycka. Die beiden jammern über die schlimmste Fahrt bei Rattray-Head, die sie bisher in ihrem Leben hinter sich gebracht haben. So schlimm wurden sie noch nie durchgeschüttelt. Ich kann mit meiner ruhigsten Fahrt kontern, doch es war dennoch keine angenehme Reise. Die Lycka will heute Nacht mit der nächsten Tide weiterfahren.
Mit der Skipperin der Freyja unterhalte ich mich auch. Auch diese Gruppe will heute Nacht mit der nächsten Tide raus. Das kommt für mich nicht in Frage, ich bin noch müde von der kurzen letzten Nacht. Irgendwie kommen wir auf das Schleusenmanöver in der Seeschleuse zu sprechen. Der Werfer der Heckleine hat nicht getroffen, dafür aber derjenige, der die Bugleine geworfen hat. Diese wurde dann von einem freundlichen Helfer an Land sofort festgemacht, deswegen kam es zu dem Stunt in der Schleusenkammer. Das Festmachen mit der Vorleine zuerst war nicht geplant, sondern ein Unfall.
Ich habe keine Lust mehr zu kochen und spaziere in den Ort. Dort suche ich mir einen Pub, der neben den normalen, frittierten Pubgerichten auch Pizza anbietet. Auch preislich ist der Laden nicht schlecht, ich bekomme eine Pizza und ein Bier für 9,50 Pfund. Danach gehe ich wieder zurück an Bord und krieche sofort in meine Koje. So müde war ich um diese Uhrzeit schon lange nicht mehr.
Lieber Jörg, komm gut zurück zum Ijsselmeer! Habe all deine Berichte gelesen…immer ein Genuss!
Viele Grüße von Claudia