Ich hätte es wissen müssen. Wir hätten gestern die Segel runter nehmen sollen. Gestern war es windstill und trocken, heute pfeift der Wind und bläst Regen über den Hafen. Dafür hatten wir gestern aber einen wunderschönen Tag. Gregor und ich schließen uns mit Barbara und Volker kurz.
Wir verabreden uns diesmal am Bahnhof. Der Zug ist pünktlich, sauber und in weniger als einer Stunde in Leeuwarden. Auch hier regnet es. Wir starten trotzdem zu einem ausgiebigen Stadtrundgang.
Der schiefe Turm ist nur eine der nassen Sehenswürdigkeiten, die wir uns angesehen haben. Auf den Besuch von Museen verzichten wir alle gerne und so finden wir uns irgendwann in einer Gaststätte an der Hauptgracht wieder.
Die Gaststätte wirbt mit Texeler Bier. Es ist eine gute Gelegenheit für uns alle, uns an verschiedene Ausflüge nach Texel zu erinnern. Wir wollen gar nicht lange bleiben, doch irgendwie quatschen wir uns fest.
Der nächste Tag ist ein Samstag. Für Gregor der Tag der Abreise. Zum Glück hatte er die Weitsicht, den Zug erst für 13:18 Uhr zu buchen. Volker und Barbara bieten mir an, mich beim Abnehmen der Segel zu unterstützen. Zunächst wird das durch einen dicken Regenschauer verhindert. Dann klart es auf, Segel und Wiese trocknen ab. Am späten Nachmittag sind wir erfolgreich. Sissi ist jetzt obenherum nackt.
In den folgenden Tagen treffe ich mich noch mehrfach mit Barbara und Volker. Wir essen immer gemeinsam zu Abend. Am Montag heißt es dann Abschied nehmen, die beiden reisen zurück nach Frankfurt. Vorher darf ich ihnen den Kofferraum ihres Autos noch einmal richtig voll laden. Eine Unmenge Konserven wandern aus den Tiefen der Vorratslasten von Sissi in das Auto. Ich habe trotzdem noch das Gefühl, jederzeit für eine sechswöchige Passage auslaufen zu können. Da war viel zu viel an Bord.
Irgendwie ist die Zeit hier stehengeblieben. Es gibt kleinere und größere Veränderungen. Der Nachfolger des Cafe Max macht mir keine Freude, dem alten Laden trauere ich nach. Dafür hat die schlechte Pizzeria dauerhaft zugemacht. Im Winter war ihr einziger Vorteil, dass sie an Montagen geöffnet hatte. Das Steakhaus ist immer noch gut.
Stavoren fühlt sich wie ein Bilderbuch voller Klischees über Holland an. Seien es die Radfahrer auf ihren Hollandrädern, die Grachten, die gepflegten Gebäude und der Bahnhof mit seinen absolut pünktlichen Zügen.
Mal ist es windig und regnerisch, mal ist es sonnig und windstill. Auch wettermäßig werde ich mit sämtlichen Klischees über Holland erfreut. Jeden Tag räume ich auf, packe Sachen weg. Ich werfe auch einiges weg, es ist viel zu viel Zeug an Bord. Das wird noch lustig werden.
Ich arbeite mich durch den Bürokratiedschungel. Das Satellitentelefon wird abgemeldet. Die Auslandskrankenversicherung wird beendet. Die Bootsversicherung muss angepasst werden. Ich brauche eine Bleibe für Sissi über den Winter und eine Bleibe für mich brauche ich auch. Nach und nach lassen sich alle diese Probleme lösen.
Ich verabrede mit Jens, dass er mich am Samstag mit einem Mietwagen abholen kommt. So kann ich dann schon einmal einige Sachen mit nach Frankfurt nehmen. Ich bin gespannt, wie sich der Verkehr auf der deutschen Autobahn anfühlen wird. Ich bin gespannt, wie sich nach so langer Zeit das Leben in Frankfurt anfühlen wird. Am Nachmittag bekomme ich einen Anruf vom Eintracht-Floh. Er fragt, wann ich wieder ins Stadion kommen werde.
Am nächsten Morgen schlafen wir uns erst einmal ordentlich aus. Dann starten wir langsam in den Tag. Irgendwie kann ich es noch gar nicht fassen. Nach dem Morgenkaffee gehe ich ins Hafenbüro. Sissi ist hier schon bekannt. Vor dreieinhalb Jahren hatte sie hier ihren festen Wohnsitz. Ich frage nach Winterlager-Möglichkeiten, es kommt mir unwirklich vor.
Ich bekomme eine Box für die nächsten Wochen zugewiesen. Den Liegeplatz hätte ich vor drei Jahren noch ändern wollen. Die Einfahrt ist für Stavoren-Verhältnisse vergleichsweise eng. Jetzt ist es mir egal, ich halte den Platz für vollkommen ausreichend. Barbara und Volker kommen pünktlich zum Umparken. Sie haben ihr Auto mitgebracht, denn ich will irgendwo an einer Tankstelle noch 20 Liter Diesel kaufen. Der Tank erscheint mir ziemlich leer. Der Motor ist ein paar Stunden länger mit hoher Geschwindigkeit gelaufen, als ich es ursprünglich erwartete. Es hat ja gereicht. Wir wollen einen kleinen Ausflug nach Sneek machen.
Die Fahrt nach Sneek dauert länger, als ich erwartet habe. Mit der Bahn legt man die Strecke in ca. 25 Minuten zurück, mit dem Auto dauert es ein wenig länger. Ich sinniere über meine Aufgaben in den nächsten Tagen nach. Die Segel müssen wir herunter nehmen. Am liebsten würde ich diesen Job noch erledigen, solange Gregor bei mir ist. Heute wäre das Wetter ideal – windstill und sonnig. Doch wir sitzen im Auto und fahren nach Sneek. Es wäre das erste Mal, dass ich am Tag nach der Ankunft von einer mehrtägigen Seereise etwas am Schiff arbeiten würde. Das hat Zeit bis morgen, denn Gregor fährt übermorgen nach Hause.
Bei allerbestem Wetter machen wir einen Spaziergang durch die Grachten und die Altstadt von Sneek. Es fühlt sich unwirklich an. Ich gehe mit Barbara, Volker und Gregor durch einen Ort in Friesland spazieren. Wir unterhalten uns praktisch über jedes Thema der Welt.
Für den Abend haben wir einen Tisch im „Gran Cafe de Schans“ reserviert. Das befindet sich in den Räumlichkeiten des ehemaligen Cafe Max. Wir sind gespannt, ob der neue Eigentümer etwas von dem Charme des alten Betriebs übernehmen konnte.
Wir sind irgendwann des Laufens müde. Zum Glück sucht man in Sneek nicht lange nach einer Einkehrmöglichkeit. Das Auto erweist sich als mehr und mehr unpraktisch, denn der Fahrer oder die Fahrerin muss nüchtern bleiben. Ich nehme mir vor, einen möglichen anderen Ausflug mit der Bahn zu planen. Leeuwarden wäre auch noch ein schönes Ziel.
Es ist ja so, dass ich hier und jetzt meinen Traditionen treu bleibe. Ich komme irgendwo an und sehe mir die Gegend an. Ich war zwar vor einer ganzen Weile schon einmal hier, die Gegend bleibt aber trotzdem schön. Dennoch hadere ich in Kenntnis der Wettervorhersage mit der Tatsache, dass wir die Segel heute nicht herunter nehmen. Für morgen ist Regen vorhergesagt.
Es ist Zeit für die Rückfahrt. Wir haben noch keinen Diesel holen können. Auf dem Hinweg haben wir uns keine Gedanken darüber gemacht. Warum auch, wir sind an Land und kommen immer wieder an Tankstellen vorbei. Unterwegs plant man das anders. Ich muss meine Denkmuster wieder an kontinentale Verhältnisse anpassen. Ich werde dieses Jahr mit Sissi nicht mehr weitersegeln. Ich brauche keine Vorräte für Wochen mehr. Das Boot muss weitgehend ausgeräumt werden. Ich frage Volker und Barbara, ob sie mir nicht ein paar Dosen Konserven abnehmen können.
Wir verabschieden uns für kurze Zeit vor der Marina. Barbara und Volker tauschen das Auto gegen Fahrräder aus, wir wollen noch kurz an Bord gehen. Ein letztes Mal denke ich über die Segel nach. Dann dämmert mir, dass das zur Not auch noch bei meinem nächsten Besuch in ein paar Wochen gemacht werden kann. Gregor und ich spazieren ins Restaurant. Das Gran Cafe de Schans ist gut besucht. Wir warten an der Bar auf unseren Tisch. Die einzige Kellnerin ist mit der großen Zahl der Gäste überfordert. Es gibt keinen Smalltalk mehr, die arme Frau ist gehetzt. Wir warten recht lange auf unser Essen. Wir warten lange auf die Getränke. Von der Menge und dem Geschmack des servierten Essen bin ich nicht begeistert. Doch der Abend als solcher ist wunderschön. So langsam wird mir klar, dass ich angekommen bin.
Nach meiner ersten Kennenlern-Tour habe ich heute eine größere Tour in Newcastle geplant. Für 7,80 Pfund gibt es eine Tageskarte, die in allen Bussen, Bahnen und der Fähre gültig ist. Die will natürlich gründlich ausgenutzt werden. Außerdem möchte ich mir die beiden anderen Marinas ansehen. Preislich liegen sie unter der königlichen Marina, die sanitären Einrichtungen sind sicherlich bei weitem nicht so gut.
Die der Marina nächstgelegene Metrostation ist in North Shields. Ich erreiche sie in gut fünf Minuten mit dem Bus. Das ist nicht die Station, an der der ALDI liegt, die ist weiter von der Marina entfernt. Oberhalb der Metrostation ist eine riesige Baustelle, hier wird ein neuer Umsteigepunkt für die Busse gebaut. Die Metro selbst fährt auf ehemaligen Güterbahngleisen. Zunächst muss ich zur Station Byker fahren.
Die Züge sind schon ein paar Jährchen alt, doch sie sind sauber und angenehm unzerstört. In den Zügen ist der Konsum von Alkohol untersagt, natürlich gibt es auch ein Rauchverbot und ein Verbot für E-Zigaretten. Dafür gibt es so manchen Fahrgast, der sich Fish&Chips oder einen Burger einverleibt. Ich steige in Byker aus und gehe zur Bushaltestelle. Keine fünf Minuten später fühle ich mich in den Film „Trainspotting“ versetzt. Ein eher hagerer junger Mann kommt irgendwoher gelaufen. Er ist barfuß und trägt lediglich eine Unterhose. Dazu kreischt er, dass irgendwer die Polizei rufen soll. Zum Glück machen hier gerade ein paar Handwerker in ihren Autos Mittagspause, so dass ich mich aus der Verantwortung stehlen kann. Der junge Mann wurde offenbar ausgeraubt und steht mindestens unter der Einwirkung von schon recht viel Alkohol oder anderen Drogen. Mein Bus kommt, in wenigen Minuten erreiche ich St. Peter’s Bassin.
Hier wollte ich eigentlich mit Sissi hinfahren, diese Marina liegt acht Meilen näher an der Innenstadt als Royal Quays. Doch sie liegt keinesfalls zentraler als Royal Quays Marina, denn auch hier finden sich keinerlei Einkaufsmöglichkeiten. Auch St. Peter’s Bassin ist zwischen einem reinen Wohngebiet und einem Industriegebiet eingequetscht.
Ich finde auf Anhieb auch keinen freien Liegeplatz, auf dem man Sissi problemlos unterbringen könnte. Womöglich hätte mich das Marinabüro gleich wieder zurück geschickt, obwohl der Reeds eine Menge Besucherplätze verzeichnet hat. Doch wie meine Seekarten ist mein Reeds in die Jahre gekommen, womöglich nehmen sie hier gar keine Besucher mehr. Alles sieht ein wenig gammelig und ungepflegt aus.
Ich treffe zufällig einen Bootsbesitzer. Die Marina nimmt durchaus noch Gastlieger, doch sie ist momentan gut belegt. Preise kann er mir nicht nennen, doch in den vergangenen Jahren seien die Preise gestiegen. Die Preise aus meinem Reeds sind von 2018, das habe ich in Royal Quais auch schon bemerkt. Das Marinabüro hätte nur geöffnet, wenn die Klappbrücke bedient wird. Da hat er zumindest von der anderen Seite her recht, denn die Klappbrücke kann dank Niedrigwasser derzeit nicht bedient werden und das Büro ist geschlossen.
Auf meine Frage nach Einkaufsmöglichkeiten lächelt der Bootsbesitzer. Nur mit einem Auto könne man einen brauchbaren Supermarkt erreichen. Selbst einen kleinen Supermarkt gäbe es nur oben hinter dem Recyclinghof. An dem bin ich mit dem Bus vorbeigekommen, der ist bestimmt zwei Kilometer weg. Also sieht es hier so bescheiden aus wie in Royal Quays. Die Duschen kann ich mir nicht ansehen, ich will sie mir eigentlich auch gar nicht ansehen. Für 30 Pfund Ersparnis bis zum Wochenende bin ich nicht gewillt, hierher umzuziehen.
Bus und Metro bringen mich nun in die Innenstadt. Dort wartet eine weitere Marina auf meinen Besuch. Die City Marina möchte von mir angesehen werden. Ich steige am Monument aus, mitten in der Innenstadt.
Ich habe wieder einmal eine Ahnung, wem hier eigentlich ein Denkmal gesetzt wurde. Eine kurze Recherche in Wikipedia ergibt zwei Charles Earl Grey, ich muss ein wenig länger suchen. Das Monument wurde jedenfalls für den zweiten Earl Grey errichtet, dessen größter Verdienst wohl die Abschaffung der Sklaverei in den britischen Kolonien war. Den nach ihm benannten Tee hat er wohl nicht erfunden.
Ich spaziere zum Fluss. Die Architektur der Stadt gefällt mir. Sie erzählt von der Zeit des Wachstums während der Industrialisierung. Der Hafen von Newcastle hat immer noch eine große Bedeutung für England. Seit meiner Zeit in der Karibik sind mir aber am frühen Nachmittag nicht mehr so viele volltrunkene Menschen über den Weg gelaufen. Viele Geschäfte für die reichen Menschen und die große Zahl bettelnder Menschen am Straßenrand sprechen Bände. Ich bin seit langem wieder einmal in einer echten Großstadt angekommen.
Obwohl ich eigentlich noch genügend Bücher habe, kann ich an einem Buchladen nicht vorbeigehen. Er hat Sonderangebote und ich erwerbe noch zwei Bücher zum Preis von einem. Wenn ich noch länger geblieben wäre, hätte ich wohl noch mehr Bücher erstanden. Es gab nämlich noch das Angebot eines freien Kaffees, wenn man sich einen der Titel des Monats kauft.
Doch es ist ja noch eine Marina zu besichtigen, die Newcastle City Marina. Wenn ich an die City Marina in Cork denke, habe ich nicht mehr allzu große Erwartungen. In Cork handelt es sich um einen einzelnen Pontoon, der kurz vor der ersten niedrigen Brücke schwimmt. Auch die Beschreibung im Reeds spricht hier nur von einem Pontoon.
Zentral gelegen ist sie jedenfalls. Und im Gegensatz zum Pontoon in Cork gibt es hier sogar eine verschlossene Tür, die Unbefugte daran hindern soll, die Boote auszuplündern. Auf den blauen Tafeln an der rechten Seite sind Wettervorhersage, Tide und Brückenzeiten notiert. Allerdings für den 23. August 2022. Offenbar kümmert man sich doch nicht so richtig um diesen Liegeplatz.
Die Hälfte des Stegs ist mit ein paar Booten belegt. Es wäre also wirklich genug Platz für Sissi. Aber will ich wirklich tief in die Innenstadt hinein? Auf der Uferstraße tobt der Autoverkehr, auf der Uferpromenade tummeln sich die Touristen. Ein Ziehharmonikaspieler beschallt die Umgebung.
Auf der nächstgelegenen Brücke überquere ich den Fluss. Ich habe nämlich eine viel versprechende Leuchtreklame gesehen. Auf der anderen Seite ist eine Brauerei. Vielleicht kann ich mich hier mit einem selbst gebrauten Bier stärken.
Die By The River Brewery hat einen schönen Biergarten, der von der Sonne beschienen wird. Auch das Tor ist geöffnet. Doch leider hat die Brauerei selbst geschlossen, nur nebenan in der Bar kann man schon Cocktails bekommen. Dafür bin ich nicht hergekommen, darauf habe ich keine Lust. Also gehe ich wieder zurück auf das Nordufer.
Ich denke, die Duschen machen es aus. In der City Marina gibt es gar keine Duschen, nur den Hinweis auf die nächsten öffentlichen Toiletten. So habe ich mir die nächsten Tage nicht vorgestellt. Royal Quais hat auch den ganz großen Vorteil, dass man 24 Stunden am Tag ein- und ausfahren kann. Die Schleuse ist rund um die Uhr besetzt. Zwischen der City Marina und dem Meer befindet sich die jüngste Brücke von Newcastle, die Millenium Bridge. Es handelt sich um eine Klappbrücke für Fußgänger, die zweimal am Tag auf Anforderung nach Voranmeldung geöffnet wird. Das ist mir zu kompliziert.
Am Abend habe ich keine Lust zum Kochen. Das Marinarestaurant hat schon seit 17 Uhr geschlossen. In der nahen Umgebung gibt es keine weiteren Restaurants. Doch ich habe ja meine Tageskarte. Ich setze mich in den Bus nach North Shields und fahre zu einer Pizzeria. Die Pizza ist nicht besonders gut, sie ist aber auch nicht besonders schlecht. Auf dem Rückweg fängt es an zu regnen. Der Wind hat aufgefrischt, es ist merklich kälter geworden. Der angesagte Nordost ist angekommen. Vielleicht hätte ich es bis nach Holland geschafft, vielleicht auch nicht. Jetzt muss ich mir keine Gedanken mehr darüber machen.