Starkwind

Sissi rollt, stampft und giert in den Wellen, die teilweise bis zu drei Meter hoch sind. Es ist beeindruckend aber auch beängstigend. Die Gischt spritzt über das Deck, immer wieder ergießen sich brechende Wellen in unser Cockpit, das normalerweise immer trocken bleibt. Wellen schlagen wie Paukenschläge gegen den Rumpf. Manchmal wird der Bug getroffen, in der Folge macht das Schiff eine heftige Drehbewegung. Wenn es uns auf der Seite trifft, fühlt es sich an, als würden wir um ein paar Meter versetzt. Trifft es am Heck, wird der Mensch im Cockpit nass, der in diesen Fällen normalerweise gerade die Winschkurbel zum Reffen benutzt. Der Wind heult in der Takelage, am Surren des Windgenerators höre ich problemlos die Windstärke. Es ist der dritte Starkwindtag in Folge.

Es ist ein Regentag. Zumeist regnet es Salzwasser, oft auch Süßwasser. Meine Regenhose ist nicht mehr wasserdicht, die von Jens genauso wenig. Ebenso so unsere Regenjacken. Doch es läuft, es läuft richtig gut. Meile um Meile nähern wir uns dem Ziel. Wir können fast schon ausrechnen, wann wir ankommen werden. Den Sonntag werden wir nicht ganz schaffen, möglicherweise sind wir am Montag da.

Jens ist schon zu Bett gegangen, ich sitze mit einem Buch im Cockpit und lese es nicht, denn am westlichen Horizont zeigt sich plötzlich eine lange nicht gesehene Farbe. Orangerot. Die Sonne, die wir seit Tagen nicht gesehen haben, ist immer noch am Himmel. Herrlich. Bevor Jens sich hingelegt hat, meinte er zu mir, dass er keinen Sundowner möchte, weil die Sonne nicht scheint. Also nehme ich ihn alleine zu mir, dabei kann ich den Sonnenuntergang beobachten. Langsam wird es dunkel.

KAWUMM!!! Ein Schlag geht durch das Boot. Das war keine Welle. Mit der Taschenlampe checke ich die Umgebung und muss feststellen, dass einer von vier Bolzen weggeflogen ist, an denen das Achterstag hängt. Das Achterstag ist das Stahlseil, dass den Mast nach hinten abspannt. Verflucht, das ist genau das, was ich in meiner Wache brauche. Jens schaut ins Cockpit, der Bolzen war über seinem Bett. Das hat ihn unsanft geweckt. Es ist 21:20 Uhr.

Ich werfe den Motor an, Jens wirft sich in seine Klamotten. Die Genua wird reingekurbelt, jetzt brauchen wir keinen Zug auf den Drahtseilen. Da ich diese Reparatur schon einmal ausgeführt habe, weiß ich genau, was wir jetzt machen müssen. Erst einmal brauchen wir Werkzeug und ein Ersatzteil. Es ist 21:25 Uhr.

Ein Ersatzbolzen findet sich schnell, wir sind schließlich mit den Teilen gut sortiert. Der muss jedoch noch vorbereitet werden, damit er an die Stelle passt. Ich brauche die Flex, denn ich muss ein kleines Stück vom Kopf abflexen, ein Sechstel des Sechskants. Was bin ich froh, dass wir keine akkubetriebenen Werkzeuge mehr haben. Dann hätte ich vermutlich einen leeren Akku in der Hand. Mit dem 15m-Verlängerungkabel kommen wir vom Inverter überall an Bord hin, da brauchen wir keine akkubetriebenen Werkzeuge. Wenn man es anders formuliert, ist Sissi der Akku. Schnell ist der Bolzen bereit zum Einsetzen. Es ist 21:40 Uhr.

Ich löse das Achterstag ein wenig, um es zu entspannen. Dann versuche ich, den Bolzen an seinen Platz zu bringen. Pustekuchen. Der größte Teil des alten Bolzens ist noch dort, wo ich ihn mit Dichtmasse eingeklebt habe. Den müssen wir erst einmal mit einer Zange nach unten herausdrehen. Wir wechseln uns ab. Der Regen nimmt zu. Wir brauchen eine Viertelstunde und ziemlich viele Flüche. Dann habe ich das Reststück in der Hand. Es ist 22:10 Uhr.

Nur wenige Hammerschläge sind es nun noch, bis der neue Bolzen am alten Ort sitzt. Leider ist er zu kurz. Er guckt nicht einmal ansatzweise aus dem Loch heraus, so können wir keine Mutter festziehen. Wir suchen einen längeren Bolzen und die 17er Nuss. Jens findet die 17er einfach nicht, doch wir haben eine. Du kannst keinen Mercedes Motor reparieren, wenn du keine 17er Nuss hast. Sie steckt auf dem Drehmomentschlüssel. Es ist 22:20 Uhr, der Schaden ist gerade einmal eine Stunde her.

Diesen Bolzen muss ich nicht abflexen, er hat oben keinen Sechskant sondern braucht einen Inbus. Ist ja eigentlich doch ein Sechskant, aber eben innen. Deswegen muss Jens gegenhalten. Ich nehme mir die Handfunke mit in die Achterkoje, weil Jens mich sonst nicht hören kann. Der Regen ergießt sich über ihn in Sturzbächen. Es ist 22:30 Uhr, der neue Bolzen sitzt.

Nun darf ich wieder in den Regen. Das Achterstag will wieder gespannt werden, bevor wir Segel setzen. Eine Kleinigkeit, das habe ich nun schon oft gemacht. Jetzt noch die Sicherung einsetzen, damit sich das nicht von selbst wieder lösen kann. Fertig. Es ist 22:35 Uhr.

Wir setzen Segel, der Motor wird zum Schweigen gebracht. Die Windfahne übernimmt wieder das Ruder, Jens bringt uns auf Kurs. Ich winde mich aus den nassen Klamotten. Der Regen hört auf. Es ist 22:40 Uhr. Geschafft.

Als Belohnung gönnt uns der Wind einen kleinen Winddreher. Wir sind genau auf unserem Zielkurs, Horta liegt vor dem Bug. Ich lasse Jens in der Nacht eine halbe Stunde länger schlafen, bevor ich ihn zu seiner Wache hole. Am nächsten Morgen wache ich frisch und entspannt auf, Wind und Wellen haben nachgelassen. Der Zielkurs liegt weiterhin an. Beim Morgenkaffee im sonnigen Cockpit berichtet Jens von einer entspannten Wache. Neben Sissi bläst ein Wal, doch der ist auf Gegenkurs unterwegs. Leider haben wir keine Chance, ein Foto von diesem beeindruckenden Tier zu schießen. Die Wettervorhersage für die kommenden Tage ist gut, wir haben das Schlimmste überstanden.

22. Etmal: 93 nm
Position: 38°25‘N 37°35‘W
Reststrecke: 418 nm