Die Ruhe vor dem Sturm?

Es regnet nicht und es ist auch kein nennenswerter Regen vorhergesagt. Die See ist glatt. Im Keller grollt der Motor. Es ist später Nachmittag, kurz vor der Abendessenszeit. Wir warten seit 16 Stunden auf etwas Wind.

In der letzten Zeit haben wir uns einen Sundowner angewöhnt. Wir trinken nach dem Abendessen einen Cola-Rum und schauen der Sonne zu, wie sie im Ozean versinkt. Doch die Zeitumstellung macht uns inzwischen einen Strich durch die Rechnung. Inzwischen findet der Sonnenuntergang irgendwann nach 20 Uhr statt, zu dieser Uhrzeit bereitet sich Jens schon auf seine Wache vor.

Ein bekanntes aber seltenes Geräusch lässt uns in Extase geraten. Einige hundert Meter vor dem Bug sehen wir einen großen Wal blasen. Er bläst ein paar Mal, dann taucht er in hohem Bogen wieder ab. Jens holt seine Kamera. Wenige Minuten später bläst der Wal an Steuerbord querab. Leider wird es mit dem Foto nichts, er verschwindet zu schnell wieder in der Tiefe. Wir sehen ihn noch zweimal, dann ist er weit achteraus. Wir sehen die Wasserfontäne noch einmal, als von dem Wal schon nichts mehr zu sehen ist. Ein schöner Sundowner!

Hoffentlich sehen wir noch mehr Wale. Die Gegend ist ja dafür bekannt, dass die Wale sich hier herumtreiben.

Die Nacht ist nicht so kalt wie die Nacht davor. Ich brauche die Regenklamotten nicht, es weht allerdings auch kein kalter Wind. Es weht gar kein Wind. So sitze ich im Cockpit, lausche dem monotonen Wummern unseres Flautenschiebers und lese ein Buch. Schön, dass ich die vier Bücher noch nicht gelesen habe, die ich mir vergangenes Jahr für die Atlantiküberquerung gekauft habe.

Der AIS-Alarm feuert. Von Steuerbord nähert sich das Segelboot PRONTO, registriert in Frankreich. An der Kurslinie ist deutlich zu sehen, dass sie segeln und nicht unter Maschine laufen. Das Boot ist genauso lang wie Sissi, kann die leichte Brise aber offensichtlich verarbeiten. Nach einigen Minuten wird mir klar, dass wir diesmal ausweichpflichtig sind. Wir sind ein Motorboot, außerdem kommt der andere von Steuerbord. Ich beobachte die PRONTO also pflichtgemäß und sehe sogar die Positionslichter. Kurz bevor ich ein Ausweichmanöver einleiten kann, macht die PRONTO eine Wende.

Ich fühle mich schlecht. Habe ich das andere Boot etwa in die Wende getrieben, weil ich bislang wie ein Kreuzfahrtschiff-Kapitän den Kurs gehalten habe? Ich greife zum Funkgerät und spreche sie an. Nein, sie konnten den anderen Kurs nicht mehr halten und wollen sowieso wie wir auf die Azoren. Jetzt würden sie parallel zu uns fahren.

Das erleichtert mich sehr. Ich erkläre, dass wir nun alle Alarme ausschalten müssen, weil sie sonst Dauerfeuer liefern, und dass ich mich gerne mal für eine halbe Stunde hinlegen würde. Der Franzose versteht sofort, was Sache ist. Auf der PRONTO seien sie zu viert, ich könne mich problemlos hinlegen, sie hätten alles unter Beobachtung. Perfekt.

Morgens um 6:30 Uhr werde ich von Jens geweckt. Der Wind ist wieder segelbar. Wir setzen die Segel, die PRONTO hat sich inzwischen einen gewissen Vorsprung erarbeitet. Mit Leichtwind ist sie viel schneller als Sissi, aber wie sieht es mit dem für das Wochenende erwarteten Starkwind aus? Vielleicht sehen wir sie nochmal.

Jetzt fahren wir flott auf Zielkurs. Die Wettervorhersage verspricht eher zu viel als zu wenig Wind. Wir werden das beobachten. Besser viel Wind als keiner. Wir haben noch ca. 160 Liter Diesel im Tank.

17. Etmal: 83,4 nm
Position: 35°43‘N 46°17‘W
Reststrecke: 858 nm