Atlantis

Tag 9

Der Wind bläst mit gewohnter Stärke und wir kreuzen durch die karibische See. Aus den Lautsprechern ertönt kubanische Salsa-Musik, die wir uns vor Ort kopiert haben. Wenn man Salsa tanzen könnte, würde man zu diesen Klängen jede schöne Frau über die Tanzfläche schieben können. Wir haben eine Mission. Wir sind auf der Suche nach einer geheimnisvollen, vergessenen Insel. Dieses Eiland fehlt in allen Seekarten. Warum tun wir das?

Vor ein paar Tagen saßen wir noch in einer dunklen, schmutzigen kubanischen Bar in Santiago, in die sich vor uns noch nie ein Tourist verirrt hat. Wir tranken Rum, denn es gab kein Bier. Dem Wasser haben wir nicht getraut. Der Rum schmeckte gut, er schmeckte süß und erinnerte an das Meer. Plötzlich kam ein alter Kubaner zu uns an den Tisch. Er lächelte uns an, zwischen den Zahnlücken waren nur noch wenige schwarze Zähne zu sehen. Seine Haut war faltig und fleckig. In einer großen Zahnlücke hatte er eine der dicksten Zigarren platziert, die wir jemals gesehen haben. Er wollte wissen, wo wir herkommen.

Als wir „Deutschland“ sagten, freute sich der Alte sehr. Er sei jetzt 93 Jahre alt und in der Zeit vor der Revolution sei er zur See gefahren. Dabei ist er auch nach Deutschland gekommen, nach Stralsund und nach Warnemünde. Dort wäre das Bier gut und billig gewesen. Er wollte wissen, ob das heute noch so ist. Und er musste uns umgehend mitteilen, dass er die Fußball-Bundesliga toll findet und ein großer Fan von Bayern München ist. Ich spie meinen Rum aus.

Jens erklärte ihm, dass die Erwähnung dieses Vereins bei mir immer Übelkeit und Erbrechen auslöst. Er bestellt eine Runde Rum für uns drei. Der Alte war weiterhin an uns interessiert. Er nahm mir meinen Brechreiz nicht übel und fragte, wann unser Flieger zurück nach Deutschland geht. Wir verrieten ihm, dass wir mit dem Segelboot hier sind und in den nächsten Tagen weiter fahren wollen.

Wenn wir noch ein oder zwei Gläser Rum spendieren, sagte der Alte, hätte er etwas ganz Besonderes für uns aus der Zeit, in der er zur See gefahren ist. Das machte uns neugierig, ich ging zum Wirt und bestellte die nächste Runde.

Der Alte leerte sein Glas in einem Zug und verabschiedete sich kurz. Er müsse in seine Wohnung gehen, die sei aber gleich um die Ecke. Noch bevor Jens und ich unsere n Rum austrinken konnten, war der Alte schon wieder da. Er faltete eine zerknitterte und abgenutzte Seekarte von 1904 auf dem kleinen Kneipentisch auseinander und schaute fragend auf die lange Reihe von Rumflaschen hinter dem Tresen. Dabei zog er lange und genießerisch an seiner Zigarre. Auf mein Handzeichen brachte der Wirt sofort die nächste Runde. Es kam mir vor, als wäre bei jeder Runde mehr Rum in den Gläsern.

Wir erkannten auf der Karte Aruba, Bonaire und Curacao sowie die Küste Venezuelas. Mit kaum noch erkennbaren Bleistiftstrichen war nordwestlich von Aruba eine weitere Insel eingezeichnet worden. Wir wollen sie Atlantis nennen. Der Alte erzählte, dass er 1947 als Matrose auf einem Frachtsegelschiff gefahren ist. Das Schiff ist in einen schweren Sturm geraten und alle drei Masten seien gebrochen. Nachdem sie zwei Tage über den Atlantik getrieben sind, seien sie auf Land gestoßen und gestrandet. Der Kapitän hätte nicht gewusst, dass sich dort eine Insel befindet.

Die Insel war grün und fruchtbar, die Einwohner freundlich und hilfsbereit. Sie halfen den Seeleuten, ihren Frachter wieder flott zu machen. Jeder Matrose fand sofort eine oder zwei Freundinnen. Der alte Mann schwärmte von Seen mit kristallklarem Wasser, Urwäldern mit Früchten, die man nur pflücken musste und mit einer Tierwelt, die ihresgleichen suchte. Wer wollte, hat sich einen Vogel gefangen und gegrillt. Zahme Wildschweine grunzten zwischen den Bäumen. Es war das Paradies auf Erden.

Die Einwohner unterstützten die Schiffbrüchigen beim Setzen der neuen Masten. Es gab neuen Proviant, leckeres Obst und frisches Gemüse, saftige Rindersteaks und knuspriges Brot. Der Abschied sei ihnen sehr schwer gefallen, erzählte uns der Alte an unserem Tisch und schaute in sein leeres Glas. Nicht alle Matrosen hätten damals die Insel wieder verlassen, einige blieben für immer. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört.

Der Wirt brauchte kein Zeichen mehr, er war sofort mit der Flasche am Tisch. Außerdem hatte er drei dicke Zigarren in seinen Händen, ein Geschenk des Hauses. Der Kapitän hätte versucht, die Position der Insel in die Seekarte einzutragen. Wegen des Sturms sei die Position aber nicht so ganz genau gewesen. Er würde uns diese Seekarte nun schenken. Wenn wir in der Gegend seien, sollen wir aufpassen, dass wir nicht Schiffbruch erleiden. Jens uns ich verabschiedeten uns. Wir eilten zum Hafen, um die letzte Fähre des Tages in die Marina nicht zu verpassen.

Jetzt segeln Jens und ich seit ein paar Tagen in der fraglichen Gegend ein Zick-Zack-Suchraster ab. Wir sind freudig auf diese Insel gespannt, die auf unseren Seekarten und auf Gugel-Maps fehlt. An der erwarteten Position zeigt die Satellitenaufnahme leider nur eine dichte Wolkendecke. Das Radar läuft, wir können sie nicht verpassen. Seit Tagen haben wir kein Schiff mehr gesehen, wir sind abseits aller Schifffahrtsrouten. Der Kater vom Rum ist längst vergangen. Die Seekarte liegt auf dem Kartentisch, Wasser tropft langsam auf den alten Druck. Atlantis, wir kommen! Unser Etmal sind 89,2 Meilen. Noch 85 Meilen Luftlinie bis Atlantis.

Zick und Zack und Zick und Zack

Tag 8

Die Frustration des gestrigen Tages ist einer gewissen Euphorie gewichen. Wir können es machen und wir werden es machen. Unser ursprünglicher Plan, in den Bereich hinein zu fahren, von dem aus wir mit dem Motor an unser Ziel fahren können, wurde durch die Atlantikwellen pulverisiert. Wir können allenfalls die letzten Meilen motoren, die Wellen sind zu groß und die Gegenströmung zu stark.

Doch nun nutzen wir die Mittel, die wir haben, auf wesentlich effizientere Weise. Wir lesen die Wetterkarte genauer und nutzen die Winddreher zu unseren Gunsten. Das bringt uns voran. Nicht so schnell, wie wir erwartet hätten, doch wesentlich schneller, als wenn wir mit dem Motor fahren würden.

Zuerst fahren wir sechs Stunden nach Norden, der Wind verwehrt uns einen direkten Kurs auf Aruba. Kurz vor dem Abendessen kommt dann der erwartete Winddreher. Er ermöglicht uns für die kommenden zwölf Stunden einen direkten Kurs auf unser Ziel. Wenn der Wind wieder zurück dreht, nehmen wir wieder Kurs nach Nord. Und so weiter… Eigentlich wollten wir heute schon angekommen sein, das war Wunschdenken von uns. Wir haben die Gegenströmung komplett unterschätzt. Jetzt haben wir gelernt, damit umzugehen.

Während meiner abendlichen Wache schaue ich zwei Filme, diesmal bleiben wir von Unwettern verschont. Ein merkwürdiges Geräusch lenkt mich vom Kino ab, neben mir zappelt im Cockpit ein fliegender Fisch. Den verfrachte ich so schnell wie möglich in sein eigentliches Element zurück, da kann er zappeln so viel er will.

Um halb zwei lenkt mich ein flackerndes Licht von meinem dritten Film ab. Der Dimmer im Salon hat das viele Salzwasser nicht vertragen. Obwohl die Lampe ausgeschaltet ist, flackert sie munter vor sich hin. Ich hole das Werkzeug und baue den Dimmer aus. Das Wasser hat furchtbar gewütet. Der Dimmer wird mit Süßwasser gereinigt und trockengelegt.

Der morgendliche Winddreher kommt zwei Stunden früher als erwartet. Jens fährt eine Wende, ich werde in der Koje herumgeworfen. Wir machen wieder Strecke nach Norden, das verbessert den Winkel nach Aruba. Vorgestern hatten wir noch einen Winkel von 120°, jetzt sind wir bei einem Winkel von 135°. Wenn wir bei 150° angekommen sind, können wir es direkt segeln. Dann sind wir auch weitestgehend unabhängig von den Winddrehern. Der einzige Wermutstropfen ist, dass wir immer noch knapp 150 Meilen Luftlinie zurücklegen müssen. Unser Etmal sind 83 Meilen.

Frustrierend

Tag 7

Wir versuchen alles, um unsere Geschwindigkeit zu verbessern. Es ist eine Krux. Entweder fahren wir den perfekten Kurs, dann sind wir aber langsamer als ein DHL-Paket. Oder wir fahren eine akzeptable Geschwindigkeit, dann nähern wir uns Aruba nicht mehr so richtig. Die Kompromisslösung ist also ein ungünstiger Kurs mit langsamer Geschwindigkeit. Unsere Zukunftspläne für die Zeit nach Aruba beinhalten eigentlich einen weiteren langen Schlag gegen den Passat. Das müssen wir noch einmal überdenken. Das Überdenken wäre viel leichter, falls Jamaika endlich die Grenzen öffnet. Das werden wir in diesem Frühjahr aber wohl nicht mehr erleben.

Ein Regenschauer dreht den Wind noch einmal 40° zu unseren Ungunsten. Nach eineinhalb Stunden ist er vorbei, wir sind wieder auf dem Kompromisskurs.

Jens entdeckt verloren geglaubte Fertigkeiten wieder. Seit wir in Lagos (Portugal) losgefahren sind, haben wir uns nie wieder Gedanken über das Trimmen unserer Segel machen müssen. Der Wind kam immer von hinten und in ausreichender Stärke. Jetzt kommt er von vorne und ist mal stärker und mal schwächer. Jens setzt das Groß ordentlich durch, es steht nun faltenfrei im richtigen Winkel zu unserer Genua.

Aus dem Kompromisskurs wird fast der perfekte Kurs, wir hätten uns früher mit der Thematik auseinandersetzen sollen. Doch wer wird schon über verschüttete Milch lamentieren, es ist wie es ist. Mit dem neuen Kurs und der neuen Geschwindigkeit können wir damit rechnen, am Dienstag in Aruba zu sein.

Alles ist wie immer. Die Bordroutine hat sich eingestellt. Jens geht nach dem Abendessen ins Bett, ich habe die erste Wache. Die Windvorhersage verspricht uns für die nächsten Stunden einen Winddreher zu unseren Gunsten, der kombiniert ist mit etwas mehr Windstärke. Jens meint noch, ich hätte den ganzen Spaß, denn für seine Wache ist weniger Wind vorhergesagt und der Wind wird wieder zu unseren Ungunsten drehen.

So sitze ich im Cockpit und lese ein Buch, als aus heiterem Himmel der Wind von 20 kn auf 40 kn auffrischt. Gleichzeitig setzt heftiger Regen ein. Ein Squall wie aus dem Bilderbuch. Ich feuere das Radar an und überlege, die Segel zu reffen. Die Aufwärmphase des Radars sind 90 Sekunden, in dieser Zeit wurde mir schon klar, dass wir sicher unterwegs sind. Unsere gut getrimmte Besegelung und Sissi stecken das locker weg. Der Windpilot steckt es ebenfalls weg und hält das Boot sicher auf Kurs. Ich bin pitschnass im Cockpit. Nach einer Viertelstunde ist der Spuk vorbei und alles normalisiert sich.

Eine gute Stunde später kommt der nächste Squall. Diesmal läuft das Radar, ich hätte ihn vorher sehen müssen. Ich sah ihn aber nicht, der Regen setzt erst später ein. Dann aber heftig, wie ich es aus Aruba kenne. Auch diesmal geht es auf 40 kn Wind hoch, ich sehe den Regen auf die Solarzellen prasseln. So viel Spaß wollte ich in der Nacht nicht haben.

Aus heiterem Himmel tut es einen heftigen Schlag, eine Welle trifft Sissi im achteren Bereich. 12 Tonnen Segelboot werden in Bruchteilen von Sekunden zur Seite geschleudert. Mein Kopf schlägt gegen das Cockpitdach. Das gibt eine Beule. Jens ruft aus der Achterkoje, dass Wasser durch das Seitenfenster eingedrungen ist. Zum Glück ist das Seitenfenster noch an Ort und Stelle. Die Regeln des Atlantik sind hart.

Nach genauer Prüfung der Wettervorhersage sollte der Spaß um ein Uhr früh vorbei sein. Um drei Uhr wird Jens mich ablösen. So bleibt der ganze Spaß bei mir. Danke. Jens zieht derweil ein frisches, trockenes Bettlaken auf sein Bett. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Am Morgen weckt mich ein Knall. Kurz darauf höre ich, dass der elektrische Autopilot seine Arbeit aufgenommen hat. Ich krieche aus dem Bett. Jens unterrichtet mich, eines der Steuerseile unseres Windpiloten ist mitsamt seinem Umlenkblock abgerissen. Mal wieder eine Reparatur am Morgen. Es ist frustrierend. Wir nähern uns Aruba nur zentimeterweise und jeder dieser kleinen Defekte wirft uns wieder meterweit zurück. Siebtes Etmal 71 Meilen. Noch 150 Meilen Luftlinie nach Aruba.