Die letzten Tage eines mehrtägigen Segeltörns ziehen sich wie Kaugummi. Bei einem mehrwöchigen Segeltörn ist das noch wesentlich schlimmer, das Kaugummi zieht längere Fäden. Nordseequerung und Biskaya waren jeweils ca. 400 Meilen weit, gerade zwei Tage für das Eingewöhnen in die Bordroutine und zwei Tage Warten auf die Ankunft. Die Strecke von Lagos nach Lanzarote war knapp 600 Meilen lang, die von Teneriffa nach Mindelo etwa 900 Meilen. In allen diesen Fällen waren die beiden letzten Tage die schlimmsten Tage, denn man ist ja eigentlich schon fast da, muss aber an der Bordroutine festhalten. Ich werde diese Tage ab sofort die Kaugummitage nennen.
Wir haben keine 200 Meilen mehr bis nach Barbados. Eine lächerliche Entfernung, die letzten 10 Prozent der Strecke. Ich sitze im Cockpit und genieße meine vorletzte Wache. Es hat abgekühlt auf 27°C, das fühlt sich sehr angenehm an. Der Sternenhimmel ist wieder einmal sensationell, der Mond wird erst in vier bis fünf Stunden aufgehen. Die Wellen sind gerade sehr angenehm, Sissi gleitet fast lautlos durch das Wasser. Immer wieder kann ich in unserer Bugwelle Leuchtplankton sehen, denn ich habe die komplette Beleuchtung ausgeschaltet – auch die meisten Instrumente, denn ich will kein künstliches Licht um mich herum. Als Frankfurter Bub bin ich mit den Sternbildern nicht besonders vertraut, denn in Frankfurt sieht man nur den großen Wagen. Tagsüber auf den Fahrradweg falsch geparkt und in der Nacht bei guten Bedingungen auch am Himmel. Mit Hilfe des Kompasses finde ich den Polarstern – denke ich. Kann man den auf 14° nördlicher Breite überhaupt noch sehen? Keine Ahnung. Ich werde mir mal eine App fürs Handy runterladen. Es ist ein Geschenk, das alles erleben zu dürfen.
Ja, es ist ein Geschenk. Wir haben es uns jedoch hart erarbeitet. Kleine Blutergüsse, Prellungen, Zerrungen, Backofenverbrennungen, Schürf- und Schnittwunden sind nur eine Randerscheinung der Segelei. Eine weitere ist die ständige Müdigkeit, obwohl wir alle genug schlafen können. Der Schlaf ist jedoch nicht so gut, wie auf einem Schiff, das ruhig vor Anker oder im Hafen liegt. An unseren zarten, durch Computertastaturen und Mäuse gestählten Händen findet sich jetzt Hornhaut, die sich teilweise schon wieder ablöst. Gegen den ständigen Hunger haben wir unsere Hausmittel. Heute hat Jakob noch ein letztes Zwiebelbrot gebacken, jetzt sind uns auch die Zwiebeln ausgegangen. Wir brauchen einen Supermarkt und eine Hafenbar.
Und was macht der Wind? Er wird weniger. Als hätten wir nicht schon genug von dem wenigen Wind gehabt. Da ist es wieder, unser Sissi-Ankunftsproblem. Sissi fährt prima, bis sich der Törn allmählich dem Ende zuneigt. Dann wird sie langsamer, langsamer und noch ein wenig langsamer.
Seit wir die Entfernung von 500 Meilen zum Ziel unterschritten haben, würden wir gerne die letzten Meilen bis ins Ziel fliegen. Wir wollen die Füße an Land setzen, eine mehrstündige Dusche nehmen in einer Duschkabine, die sich nicht bewegt. Wir wollen eine Mahlzeit mit mehr Besteck als nur dem Löffel zu uns nehmen, ohne mit der anderen Hand den Teller ständig festhalten und synchron mit den Schiffsbewegungen kippen zu müssen. Ich persönlich habe auch keine Lust mehr auf Eintopf, aber was anderes ist im Atlantikschwell nicht praktikabel. Selbstverständlich kann ich eine Mahlzeit in mehreren Töpfen herstellen – das Kochen geht leicht. Das Anrichten ist schon komplizierter, meist wollen die einzelnen Bestandteile des Essens nicht auf dem Teller bleiben, während man aus dem nächsten Topf schöpft. Das Essen ist anschließend ein Riesenproblem. Wir wollen eine Nacht in unserem Bett schlafen, ohne dabei durch die Gegend geschleudert zu werden.
Auf jeden Fall freuen wir uns alle auf das Anlegerbier, für das wir dann über 2000 Meilen gesegelt sein werden. Gesegelt! Ich habe gestern in den schwachen Wind gerufen, dass wir den Motor starten und einen Tag früher auf Barbados sein könnten. Es will aber niemand den Motor starten. Lieber schaukeln wir uns mit derzeit 3 kn Geschwindigkeit zum Ziel. Ehrensache. Mit 5 Litern Diesel quer über den Atlantik. Dann ziehen sich die Kaugummitage halt noch etwas länger.
Zum Glück hat der Wind am Morgen wieder etwas aufgefrischt. Jens konnte eine halbe Stunde lang seine Kamera auf eine Delphinschule richten. Der Watermaker brummt mal wieder frisches Wasser in den Tank. Langsam läuft die Stromproduktion wieder an, gegen Mitternacht werden wir den Kühlschrank wieder einschalten können. Unser morgiges Anlegerbier muss kalt sein.
18. Etmal: 99 nm
Position um 12 Uhr: N13°24 W57°12
Noch 148 Seemeilen bis nach Barbados, wir haben 2038 Meilen hinter uns.